DAS DUNKLE HAUS
1
Endlos wogte das Meer vor uns und um uns herum, und nirgends war Land zu sichten. Aber ich fürchtete mich nicht; denn Minea war bei mir. Beim Atmen der frischen Meerluft blühte sie wieder auf, und der Mondglanz ihrer Augen kehrte wieder, als sie, vorn beim Galionsbild stehend, sich vornüberbeugte und die Luft in tiefen Zügen einsog, als wolle sie mit eigener Kraft die Fahrt des Schiffes beschleunigen. Blau wölbte sich der Himmel über uns, klar schien die Sonne, und der Wind blies nicht in Stößen, sondern spannte die Segel gleichmäßig und führte uns in die gewünschte Richtung. So behauptete wenigstens der Kapitän, und ich hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Da ich mich den Bewegungen des Schiffes anpaßte, wurde ich nicht krank, obgleich eine gewisse Furcht vor dem Unbekannten mein Herz befiel, als die Seevögel, die uns auf weißen Schwingen umkreist hatten, den Umkreis des Schiffes am zweiten Tag verließen und außer Sicht schwanden. Statt dessen folgte das Gespann des Meergottes unserem Schiff; die Delphine tummelten sich mit glänzenden Rücken in den Fluten, von Minea mit lauter Stimme in ihrer eigenen Sprache willkommen geheißen; denn sie brachten Grüße von ihrem Gott.
Das Meer war nicht ganz verödet. Wir begegneten einem kretischen Kriegsschiff, dessen Flanken mit Kupferschilden gesäumt waren und das uns mit den Wimpeln grüßte, nachdem die Besatzung sich davon überzeugt hatte, daß unser Fahrzeug kein Seeräuberschiff war. Auch Kaptah verließ seine Koje, als er entdeckte, daß er auf dem Schiff umhergehen konnte, und prahlte vor den Seeleuten mit seinen Reisen in vielen Ländern. Als er merkte, daß er nicht mehr krank wurde, erzählte er von seiner Fahrt von Ägypten nach Simyra und vom Sturm, der die Segel von den Masten gerissen, und daß er und der Kapitän die einzigen an Bord gewesen seien, die essen konnten, während alle übrigen wimmernd auf Deck gelegen und ihre Mägen in der Richtung des Windes entleert hätten. Er erzählte von den fürchterlichen Meerungeheuern, die das Delta des Nils bewachten und ohne Umstände ein ganzes Fischerboot verschlangen, wenn dieses sich zu weit ins offene Wasser hinauswagte. Die Seeleute bezahlten ihn mit gleicher Münze, indem sie ihm von den Säulen berichteten, die jenseits des Meeres den Himmel tragen, und von Meerweibern mit Fischschwänzen, die den Seeleuten auflauerten, um sie zu verzaubern und sich mit ihnen zu ergötzen. Über Seeungeheuer erzählten sie Geschichten, daß sich Kaptah die Haare auf dem Haupte sträubten und er, aschgrau im Gesicht, zu mir geflohen kam und mich beim Achseltuch packte. Die Speckschwarte aber warf er ins Meer, da er sie nicht verzehren konnte.
Minea wurde Tag für Tag lebhafter. Ihr Haar flatterte im Wind, und ihre Augen waren wie Mondschein auf dem Meere. Sie war schön und geschmeidig anzusehen, so daß mir das Herz in der Brust zerging, als ich sie betrachtete und daran dachte, wie bald ich sie verlieren würde. Eine Rückkehr nach Simyra und Ägypten ohne sie schien mir sinnlos, so sehr hatte ich mich an sie gewöhnt; das ganze Leben war mir wie Asche im Munde beim Gedanken an die Zeit, da ich sie nicht mehr sehen und sie nicht mehr ihre Hände in die meinigen legen noch ihre Seite an meine Seite lehnen würde. Der Kapitän und die Seeleute aber zollten ihr hohe Achtung, als sie erfuhren, daß sie eine Stiertänzerin sei und das Los gezogen habe, das ihr das Recht verlieh, das Haus des Gottes beim Vollmond zu betreten, und daß nur ein Schiffbruch sie daran gehindert hatte. Als ich versuchte, die Leute über ihren Gott auszufragen, gaben sie mir jedoch keine Antwort, sondern sagten ausweichend: »Wir wissen nicht.« Einige sagten auch: »Wir verstehen deine Sprache nicht, Fremdling.« Nur so viel verstand ich, daß der Gott Kretas über das Meer herrschte und daß die Meeresinseln ihm ihre Jünglinge und Jungfrauen sandten, um vor seinen Stieren zu tanzen.
So kam der Tag, da Kreta gleich einer blauen Wolke vor unseren Blicken aus dem Meer tauchte, die Seeleute Freudenrufe ausstießen und der Kapitän dem Meergott opferte, der uns günstigen Wind und gutes Wetter gewährt hatte. Die Berge und steilen Ufer Kretas mit ihren Olivenbäumen erhoben sich vor meinen Augen, und ich betrachtete alles als ein fremdes Land, von dem ich nichts wußte, obgleich ich mein Herz dort begraben sollte. Minea aber betrachtete die Insel als ihre Heimat, und der Anblick der kahlen Berge und der zartgrünen Erde im Schoß des Meeres entlockten ihr Freudentränen, bis die Segel gerefft wurden, die Schiffsknechte die Ruder ausstreckten und an verankerten Fahrzeugen aus aller Herren Ländern, darunter auch an Kriegsschiffen, vorüber auf die Landungsstelle zusteuerten. Im Hafen von Kreta lagen nämlich nicht weniger als tausend Fahrzeuge, und Kaptah erklärte bei ihrem Anblick, er würde es niemals geglaubt haben, wenn jemand ihm gesagt hätte, daß es so viele Schiffe in der Welt gebe. Den Hafen verteidigten weder Türme noch Mauern noch Befestigungen, sondern die Stadt begann gleich drunten am Strand; so vollständig beherrschte Kreta das Meer, und so mächtig war sein Gott.
2
Nun will ich von Kreta erzählen, und zwar nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe; hingegen will ich meine Gedanken über die Insel und ihren Gott nicht verraten, sondern mein Herz verschließen und als bloßer Augenzeuge schildern. Ich kann ruhig sagen, daß ich, der ich doch alle bekannten Länder bereist habe, nirgends in der Welt etwas so Eigenartiges und Schönes wie Kreta gesehen. Wie das Meer schimmernde Gischt ans Land treibt, wie die Blasen in allen Farben des Regenbogens prangen und wie die Muschelschalen perlmuttern glänzen, so leuchtete und glühte Kreta wie Schaum vor meinen Augen. Denn nirgends herrschen Lebensfreude und Genuß so rückhaltlos und spielerisch wie auf Kreta, und kein Mensch tut dort etwas anderes, als was ihm gerade einfällt, weshalb es schwer ist, mit diesen Leuten Versprechungen auszutauschen oder Verträge abzuschließen, weil ein jeder im einen Augenblick das eine und im nächsten etwas anderes beschließt. Deshalb reden sie auch von lauter Dingen, die schön und behaglich anzuhören, wenn auch nicht immer wahr sind, weil sie sich am Klang der Worte berauschen. In ihrem Land ist nie die Rede vom Tod, und ich glaube, daß das Wort »Tod« in ihrer Sprache nicht einmal vorkommt; jedenfalls wird er verheimlicht, und wenn jemand stirbt, wird er in aller Stille fortgeschafft, um den anderen jede Beklemmung zu ersparen. Ich glaube auch, daß sie die Leichen verbrennen, obgleich ich es nicht mit Bestimmtheit weiß; denn während meines ganzen Aufenthalts auf Kreta sah ich weder Tote noch Gräber – mit Ausnahme der alten Königsgräber, die, aus Urzeiten stammend, aus großen Steinen aufgeführt sind und von den Leuten in großem Bogen umgangen werden, weil man nicht an den Tod denken will, wie wenn man diesem dadurch entgehen könnte.
Auch ihre Kunst ist seltsam und launisch, und jeder Maler malt, was ihm gefällt, ohne sich an Regeln zu halten, ausschließlich aus Liebe zu dem, was seinen Augen schön dünkt. Ihre Krüge und Schalen prunken in glühenden Farben; darauf schwimmen Fische und andere Seetiere und scheinen Blumen zu wachsen und Schmetterlinge in der Luft zu schweben, so daß ein Mensch, der an eine von Regeln geleitete Kunst gewöhnt ist, beim Betrachten dieser Schöpfungen verwirrt wird und zu träumen glaubt.
Ihre Bauten sind nicht groß und mächtig wie die Tempel und Paläste anderer Länder; denn ihre Erbauer streben nach Bequemlichkeit und Luxus im Innern ihrer Gebäude, ohne viel Wert auf deren Äußeres zu legen. Sie lieben frische Luft und Reinlichkeit und lassen den Wind durch ihre Gitterfenster in die Zimmer herein. In ihren Häusern gibt es viele Badezimmer, in deren glänzende Wannen kaltes und heißes Wasser aus Silberröhren fließt, wenn man einen Hahn aufdreht. Auch werden die Schalen ihrer Aborte von brausenden Wasserstrahlen reingespült. Nirgends habe ich einen solchen Luxus gesehen wie in den Häusern Kretas. So leben nicht etwa bloß die Reichen und Vornehmen, sondern alle mit Ausnahme der Fremden und der Arbeiter, die im Hafenviertel wohnen.
Ihre Frauen verwenden unendlich viel Zeit, um sich zu waschen, von lästigem Haarwuchs zu befreien, das Gesicht zu pflegen, zu verschönern und zu schminken, und werden daher nie beizeiten mit dem Ankleiden fertig, sondern finden sich zu den Gastmählern ein, wann es ihnen gerade beliebt. Sogar zu den Empfängen ihres Königs erscheinen sie, wann es ihnen paßt, und niemand hält sich darüber auf. Das Seltsamste aber ist ihre Kleidung. Die Frauen tragen eng anliegende, aus Gold und Silber gewobene Gewänder, die ihren ganzen Leib mit Ausnahme der Arme und des Busens einhüllen; denn sie sind stolz auf die Schönheit ihre entblößten Brüste, während die weiten Faltenröcke mit tausenderlei Stickereien und mit von Künstlern gemalten Figuren verziert sind. Auch tragen sie Kleider, die aus Hunderten von Goldplättchen in Form von Tintenfischen, Schmetterlingen und Palmblättern zusammengesetzt sind und ihre Haut durchschimmern lassen. Ihr Haar lassen sie zu kunstreichen hohen Frisuren auftürmen, die oft tagelange Arbeit beanspruchen, und sie krönen diesen Aufbau mit kleinen leichten Hüten, die mit goldenen Nadeln im Haar befestigt werden und wie flugbereite Falter auf ihren Häuptern schaukeln. Ihre Gestalten sind schlank und geschmeidig und ihre Lenden knabenhaft schmal, weshalb sie nur schwer gebären. Sie vermeiden es auch nach Möglichkeit, Mütter zu werden, und betrachten es nicht als Schande, kinderlos zu sein oder nur ein bis zwei Kinder zu besitzen.
Die Männer tragen verzierte Stiefel, die bis zu den Knien reichen. Ihr Lendentuch jedoch ist schlicht, und sie ziehen ihre Gürtel eng; denn sie sind stolz auf ihre schmalen Hüften und breiten Schultern. Ihre Köpfe sind klein und schön, ihre Glieder und Handgelenke zierlich, und wie Frauen dulden sie keinen Flaum am Körper. Nur wenige unter ihnen sind fremder Sprachen mächtig; denn sie fühlen sich im eigenen Lande wohl und haben keine Sehnsucht nach der Fremde, die ihnen nicht die gleichen Bequemlichkeiten und Freuden zu bieten vermag wie ihre eigene Heimat. Obgleich sie ihren ganzen Reichtum mit Handel und Schiffahrt verdienen, traf ich Leute, die sich weigerten, jemals den Hafen zu besuchen, weil sie dessen üble Gerüche verabscheuten, und die auch des allereinfachsten Rechnens unkundig waren und sich daher völlig auf ihre Verwalter verließen. Deshalb können sich geschickte Ausländer auf Kreta rasch bereichern, falls sie sich damit abfinden, im Hafenviertel zu wohnen.
Sie haben aber auch Spielwerke, die Musik erzeugen, ohne daß ein Spielmann im Hause zu sein braucht, und sie behaupten, Musik aufzeichnen zu können, so daß man ein Stück, ohne es vorher gehört zu haben, nach ihrer Schrift zu spielen vermöge. Auch die Spielleute Babylons behaupteten dies, und ich will gewiß weder ihnen noch den Kretern widersprechen, da ich selbst nichts von Musik verstehe und mein Ohr durch die Instrumente verschiedener Länder nur verwirrt worden ist. Aber bei alldem verstehe ich doch, warum man anderswo in der Welt die Redeweise gebraucht: »Er lügt wie ein Kreter.«
Man sieht bei ihnen auch keine Tempel, noch machen sie viel Wesens von ihren Göttern: sie begnügen sich mit dem Dienst an ihren Stieren. Diesem kommen sie mit um so größerem Eifer nach, und es vergeht kaum ein Tag, an dem man sie nicht auf dem Zuschauerplatz des Stierfeldes antrifft. Allerdings glaube ich, daß dies weniger aus Ehrfurcht vor den Göttern geschieht als wegen der Spannung und des Vergnügens, die der Tanz vor Stieren den Zuschauern bereiten.
Ich kann auch nicht behaupten, daß sie große Ehrfurcht vor ihrem König hegen; denn dieser gilt als ihresgleichen, wenn er auch einen Palast bewohnt, der die stattlichsten Häuser um ein Vielfaches übertrifft. Sie verkehren mit ihm wie mit ihresgleichen, scherzen und erzählen ihm Geschichten, kommen zu seinen Gastmählern, wann es ihnen paßt, und entfernen sich nach Belieben, wenn sie sich langweilen oder etwas anderes vorhaben. Sie genießen den Wein mit Mäßigung, um sich zu erheitern; bei aller Freiheit ihrer Sitten betrinken sie sich nie, weil sie dies für barbarisch halten, und ich habe nie gesehen, daß sich jemand bei ihren Gelagen wegen zu vielen Trinkens erbrochen hätte, wie das in Ägypten und anderen Ländern oft vorkommt. Hingegen entbrennen sie von Liebe zueinander, ohne danach zu fragen, wer wessen Mann oder Frau ist, und geben sich miteinander der Wollust hin, wann und wo es ihnen einfällt. Die Jünglinge, die vor den Stieren tanzen, stehen bei den Frauen hoch in Gunst, weshalb viele vornehme Männer sich im Stiertanz üben, obgleich sie nicht geweiht sind. Sie tun es zu ihrem Vergnügen und erreichen oft dieselbe Fertigkeit darin wie die dem Gott geweihten Jünglinge, die sich von den Frauen fernhalten müssen, wie auch die geweihten Jungfrauen keinem Manne nahekommen dürfen. Womit das zusammenhängt, verstehe ich allerdings nicht; denn nach ihren Sitten zu urteilen, würde man nicht erwarten, daß sie dieser Sache ein so großes Gewicht beimessen.
Dies alles erzähle ich als Beweis dafür, daß ich mich oft über die Sitten Kretas gewundert, ehe ich mich an sie gewöhnte, soweit mir das überhaupt möglich war; denn die Kreter machen sich eine Ehre daraus, immer neue Überraschungen auszudenken, so daß man nie im voraus ahnt, was im nächsten Augenblick geschieht. Aber ich will ja von Minea erzählen, obgleich mir das Herz dabei schwer wird.
Im Hafen angelangt, kehrten wir in der Fremdenherberge ein. Diese war in bezug auf Behaglichkeit die luxuriöseste aller Gaststätten, die ich je gesehen. Sie war auch nicht besonders groß; so wirkte neben ihr »Ischtars Freudenherberge« in Babylon mit all ihrer verstaubten Pracht und ihren einfältigen Sklaven barbarisch. Hier wuschen wir uns und kleideten uns an, und Minea ließ sich das Haar aufstecken und kaufte sich neue Gewänder, um sich ihren Freunden zeigen zu können. Ich war erstaunt, als ich sie erblickte; denn sie trug einen kleinen Hut, der wie eine Lampe aussah, und unbequeme Schuhe mit hohen Absätzen. Aber ich wollte sie nicht mit einer Bemerkung über ihre Kleidung betrüben, sondern schenkte ihr Ohrringe und eine aus verschiedenfarbigen geschliffenen Steinen verfertigte Halskette, wie sie laut Aussage des Verkäufers an jenem Tag auf Kreta gebräuchlich war; über die Mode des nächsten Tages jedoch wußte er nichts zu sagen. Auch sah ich voll Verwunderung auf ihre entblößten Brüste, die aus der Silberhülle ihres Körpers hervorlugten und deren Spitzen sie rot gefärbt hatte; sie wich meinem Blick aus und erklärte trotzig, daß sie sich ihrer Brüste nicht zu schämen brauche, da sie es in dieser Beziehung mit jeder anderen Bewohnerin Kretas aufnehmen könne. Nach näherem Betrachten widersprach ich ihr nicht, denn sie mochte mit ihrer Behauptung sehr wohl recht haben.
Alsdann ließen wir uns in die Stadt hinauftragen, die mit ihren luftigen Häusern und Gärten wie eine andere Welt vom Hafen mit seinem Gedränge, seinem Lärm, seinem Fischgeruch und seinem Handel abstach. Minea führte mich zu einem vornehmen älteren Mann, der ihr besonderer Freund und Gönner war und bei den Wetten auf dem Stierfeld auf sie setzte, weshalb sie auch in seinem Hause wohnte und dieses als ihr Heim betrachtete. Er war gerade dabei, seine Stierlisten durchzusehen und Vermerke für die Wetten des folgenden Tages einzutragen; aber beim Anblick Mineas vergaß er seine Papyri, umarmte sie ohne Umstände und sprach hocherfreut: »Wo hast du dich versteckt gehalten, daß ich dich so lange nicht gesehen und bereits geglaubt habe, du seist in das Haus des Gottes eingegangen? Allerdings habe ich mir noch keinen neuen Schützling auserkoren, und dein Zimmer dürfte unverändert deiner harren, falls die Diener es in Ordnung gehalten und falls nicht meine Frau es hat abreißen und einen Teich an seiner Stelle einrichten lassen; denn sie hat damit begonnen, verschiedene Fischarten zu züchten, und hat zur Zeit nichts anderes im Kopf.«
»Wie? Hat Helea sich der Fischzucht in Teichen zugewandt?« fragte Minea erstaunt.
»Nicht Helea«, sagte der alte Mann ein wenig verlegen. »Ich habe eine neue Frau. Augenblicklich dürfte sie einen ungeweihten Stiertänzer bei sich haben, um die Fische zu betrachten, und ich glaube daher nicht, daß sie gerne gestört werden will. Stell mir deinen Freund vor, damit er auch der meinige und dieses Haus auch das seinige werde.«
»Das ist mein Freund Sinuhe, der Ägypter, ›er, der einsam ist‹, Arzt von Beruf«, stellte Minea mich vor.
»Ich bezweifle, daß er hier lange einsam bleiben wird!« scherzte der Alte. »Aber du bist doch nicht etwa krank, Minea, daß du einen Arzt mitbringst? Das würde mir gar nicht gefallen, weil ich hoffe, daß du bereits morgen vor den Stieren tanzen und mein Glück vermehren wirst. Mein Verwalter im Hafen klagt nämlich darüber, daß meine Einkünfte die Ausgaben nicht mehr decken oder vielleicht auch die Ausgaben nicht die Einkünfte. Ich verstehe ja nichts von den verwickelten Abrechnungen, die er mir unaufhörlich vorlegt, bis ich die Geduld verliere.«
»Ich bin nicht krank«, sagte Minea. »Aber mein Freund hat mich aus manchen Gefahren errettet, und wir sind durch viele Länder in meine Heimat zurückgereist. Auf der Fahrt nach Syrien, wo ich vor Stieren tanzen sollte, hatte ich Schiffbruch erlitten.«
»Wirklich?« meinte der alte Mann beunruhigt. »Aber ich hoffe doch, du hast dich trotz aller Freundschaft unberührt gehalten; sonst wirst du von den Wettkämpfen ausgeschlossen, und es entstehen noch andere Schwierigkeiten, wie du wohl weißt. Ich bin wahrlich sehr betrübt darüber; denn ich sehe, daß deine Brüste sich verdächtig entwickelt und deine Augen einen feuchten Glanz angenommen haben. Minea, Minea, du bist doch hoffentlich nicht auf Abwege geraten?«
»Nein«, entgegnete Minea erzürnt. »Und wenn ich nein sage, kannst du mir auf mein Wort glauben, und niemand braucht mich wie auf dem Sklavenmarkt von Babylon zu untersuchen. Du scheinst nicht zu verstehen, daß ich diesem meinem Freund zu verdanken habe, daß ich nach all den ausgestandenen Gefahren überhaupt in meine Heimat zurückgekehrt bin. Ich glaubte, meine Freunde würden sich über meine Heimkehr freuen, du aber denkst nur an deine Stiere und deine Wetten.« Sie brach in Zornestränen aus, die ihre Wangen mit Augenschminke befleckten.
Der alte Mann ward höchlich verwirrt und betrübt: »Ich zweifle nicht daran«, sagte er, »daß du nach deinen Irrfahrten aufgeregt sein mußt; denn du hast wohl in den fremden Ländern nicht einmal täglich baden können, oder wie? Und ich glaube auch nicht, daß die Stiere zu Babylon mit den unsrigen vergleichbar sind. Aber das erinnert mich daran, daß ich schon längst bei Minos sein sollte, was ich ganz vergessen habe. Ich tue daher wohl am besten daran, mich sofort hinzubegeben, ohne mich erst umzuziehen. Da immer so viele Leute dort sind, wird ohnehin keiner auf meine Kleidung achten. Eßt und trinkt also, liebe Freunde, und du, Minea, beruhige dich! Falls meine Frau kommen sollte, sagt ihr, daß ich zu Minos vorausgegangen bin, weil ich sie bei ihrem Vergnügen mit dem Stiertänzer nicht stören wollte. Eigentlich könnte ich ebensogut zu Bett gehen, denn bei Minos wird kaum jemand bemerken, ob ich anwesend bin oder nicht; aber mir ist eingefallen, daß ich einen Blick in die Stallungen werfen und mich nach dem Befinden des neuen Stieres, der einen Fleck an der Seite hat, erkundigen könnte; darum gehe ich. Ein ganz außergewöhnlicher Stier!« Er nahm zerstreut Abschied, aber Minea erklärte: »Wir gehen mit zu Minos, dort werde ich allen Freunden begegnen und ihnen Sinuhe vorstellen.«
Wir machten uns also auf den Weg nach dem Palast Minos’, und zwar gingen wir zu Fuß hin, weil sich der alte Mann nicht entscheiden konnte, ob es sich lohnte, für den kurzen Weg eine Sänfte zu nehmen oder nicht. Erst als wir in den Palast gelangten, verstand ich, daß Minos ihr König war, und ich erfuhr, daß der König Kretas immer Minos heiße, damit sie ihn von allen anderen Königen unterscheiden könnten. Niemand aber wußte, der wievielte Minos der jetzige war; denn keiner hatte genügend Geduld besessen, sie alle zu zählen und im Gedächtnis zu behalten: eines schönen Tages verschwindet ein Minos, um von einem neuen gleichnamigen ersetzt zu werden, der in jeder Hinsicht dem vorigen gleicht: und deshalb wandelt sich auch nichts auf Kreta.
Der Palast enthielt unzählige Räume, und an den Wänden des Empfangssaales sah man Seetang schaukeln und in durchsichtigem Wasser Tintenfische und Medusen schwimmen. Der große Saal war voll von Menschen. Einer war seltsamer und üppiger gekleidet als der andere, und alle waren in lebhafte Gespräche miteinander vertieft, lachten laut und tranken aus kleinen Bechern kühle Getränke, Wein und Obstsäfte, und die Frauen verglichen gegenseitig ihre Kleider. Minea stellte mich vielen ihrer Freunde vor, die alle gleich höflich und zerstreut wirkten, und König Minos redete mich in meiner eigenen Sprache an und äußerte ein paar freundliche Dankesworte, weil ich Minea ihrem Gott gerettet und sie zurückgebracht hatte, so daß sie bei erster Gelegenheit das Haus des Gottes betreten durfte, nachdem sie hierfür längst durch das Los an die Reihe gekommen.
Minea, die in dem Palast wie zu Hause war, führte mich von einem Raum in den anderen, stieß beim Anblick ihr wohlbekannter Gegenstände entzückte Rufe aus und grüßte die Diener, die sie ihrerseits grüßten, als wäre sie überhaupt nicht fort gewesen. Minea erklärte mir übrigens, daß sich jeder vornehme Kreter nach Belieben auf sein Landgut oder auf eine Reise begeben konnte, ohne seine Freunde davon zu benachrichtigen; seine Entfernung oder Abwesenheit wurde nicht beachtet, und so konnte er sich bei seiner Rückkehr zu den anderen gesellen, als ob nichts vorgefallen wäre. Das ließ sie sicherlich auch den Tod leichtnehmen; denn wenn jemand verschwand, fragte keiner nach ihm, und er wurde vergessen. Und wenn jemand zu einer Zusammenkunft oder einem Gastmahl vergeblich erwartet wurde, wunderte sich doch niemand über sein Ausbleiben; denn es konnte ihm ja inzwischen etwas anderes eingefallen sein.
Schließlich führte mich Minea in einen reizenden Pavillon, der oberhalb des Palastgebäudes an einem Berghang gelegen war und aus seinem großen Fenster eine freie Aussicht über lächelnde Felder und Äcker, über Olivenhaine und Pflanzungen außerhalb der Stadt bot. Das war ihre eigene Wohnung, und sie erklärte, alles darin befinde sich an seinem Platz, als habe sie es erst gestern verlassen; doch seien die Kleider und Schmuckstücke in ihren Kisten und Schreinen veraltet, und sie könne sie daher nicht länger tragen. Erst jetzt erfuhr ich, daß sie aus dem Herrschergeschlecht Kretas stammte, was mir allerdings bereits ihr Name hätte verraten sollen. Deshalb legte sie auch keinen Wert auf Gold und Silber und kostbare Geschenke, da sie von Kindheit an alles, was sie sich wünschte, erhalten hatte. Aber bereits als Kind war sie dem Gott geweiht und deshalb im Haus der Stiere erzogen worden. Dort lebte sie, wenn sie nicht gerade im Palastbezirk oder bei ihrem alten Gönner oder bei irgendeiner Freundin wohnte; denn die Kreter sind im Wohnen ebenso launisch wie im übrigen Leben.
Ich war neugierig, das Haus der Stiere zu sehen, und wir gingen daher wieder in den Empfangssaal des Palastes hinunter, um Abschied von Mineas Gönner zu nehmen, der bei meinem Anblick höchlich erstaunt tat und fragte, ob wir uns nicht bereits einmal gesehen hätten, da ich ihm bekannt vorkomme. Alsdann führte Minea mich zum Haus der Stiere, das mit seinen Stallungen, Feldern, Zuschauertribünen, Schulgebäuden und Priesterwohnstätten eine ganze Stadt für sich bildete. Im scharfen Geruch der Tiere schritten wir von Stall zu Stall, und Minea wurde nicht müde, die Tiere mit Kosenamen zu nennen und zu locken, obgleich sie dumpf brüllend mit ihren Hufen im Sande bohrten, sie mit rotflammenden Augen bösartig anstarrten und sie durch den Verschlag mit den Hörnern zu stoßen versuchten.
Minea begegnete auch Jünglingen und Mädchen, die sie kannte, obwohl die zum Stiertanz Auserwählten im allgemeinen nicht miteinander befreundet waren, weil sie sich gegenseitig um ihre Fertigkeit beneideten und einander die Kunstgriffe nicht lehren wollten. Die Priester hingegen, welche die Stiere abrichteten und die Tänzer und die Tänzerinnen ausbildeten, empfingen uns freundlich; und als sie vernahmen, daß ich Arzt sei, richteten sie allerlei Fragen über die Verdauung der Stiere, die rätlichen Futtermischungen und den Glanz der Felle an mich, obwohl sie wahrscheinlich mehr als ich von diesen Dingen verstanden. Minea stand bei ihnen hoch in Gunst; denn sie erhielt sofort für die Wettbewerbe des folgenden Tages einen Stier und eine Nummer zugeteilt. Ich erkannte, daß sie darauf brannte, mir ihre Kunst vor den besten Stieren zu zeigen.
Schließlich führte mich Minea in ein kleines Gebäude, wo der Oberpriester des kretischen Gottes und der Stiere in Abgeschlossenheit hauste; denn wenn Minos auch dem Namen nach der höchste Priester war, fand er doch, gleich jedem anderen Kreter, neben dem Handel und den Regierungsgeschäften nicht genügend Zeit, um sich mehr mit den Stieren abzugeben, als für den Abschluß von Wetten unerläßlich war. Wie der König immer Minos hieß, so trug der Oberpriester stets den Namen Minotaurus. Aus irgendeinem Grund war er der am meisten gefürchtete und geachtete Mann Kretas, so daß man seinen Namen nicht gerne laut aussprach, sondern ihn nur »den Mann im kleinen Stierhaus« nannte. Sogar Minea fürchtete sich vor dem Besuch bei ihm, obwohl sie es mir nicht gestand; aber ich las es in ihren Augen, deren leiseste Veränderung ich zu deuten gelernt hatte.
Nachdem wir uns angemeldet hatten, empfing er uns in einem dämmerigen Zimmer. Beim ersten Anblick vermeinte ich, den Gott selbst zu sehen, und glaubte auch an alle Sagen, die ich über Kreta vernommen hatte. Denn vor uns stand ein Mann mit menschlicher Gestalt, aber mit einem goldenen Stierhaupt an Stelle eines Menschenkopfes. Als wir uns vor ihm verbeugten, nahm er das goldene Stierhaupt ab und entblößte sein Gesicht. Obgleich er mich höflich anlächelte, gefiel er mir nicht, denn sein ausdrucksloses Gesicht hatte harte, grausame Züge; im übrigen aber war er ein schöner, sehr dunkler Mann, der zum Befehlen geboren schien und eigentlich keinen schlechten Eindruck machte. Minea brauchte ihm keine Erklärungen abzugeben; denn er wußte bereits alles über ihren Schiffbruch und ihre Reisen und stellte keine überflüssigen Fragen, sondern dankte mir für das Wohlwollen, das ich Minea und damit auch Kreta und seinem Gott erwiesen hatte, und sagte, daß in der Herberge reiche Geschenke meiner harrten, mit denen ich vermutlich zufrieden sein werde.
»Ich kümmere mich nicht um Geschenke«, erwiderte ich. »Mir ist Wissen wichtiger als Gold, und ich habe viele Länder bereist, um meine Kenntnisse zu bereichern. Ich kenne nunmehr die Götter Babylons und der Hetiter und hoffe jetzt auch den Gott Kretas kennenzulernen, von dem ich so viel Wunderbares vernommen habe, soll er doch unberührte Jungfrauen und reine Jünglinge lieben, während die Tempel der Götter Syriens Freudenhäuser sind und von entmannten Priestern bedient werden.«
»Wir haben zahlreiche Götter, die das Volk verehrt«, sagte er. »Auch gibt es im Hafen Tempel zu Ehren fremder Götter, so daß du dort dem Ammon oder dem Baal Opfer bringen kannst, falls du Lust dazu hast. Aber ich will dich nicht irreführen. Deshalb gebe ich zu, daß die Macht Kretas von dem Gott abhängt, der von jeher im geheimen verehrt worden ist. Ihn kennen nur die Geweihten, und auch sie lernen ihn erst bei der Begegnung mit ihm kennen; aber noch ist keiner derselben zurückgekehrt, um von ihm zu berichten.«
»Die Götter der Hetiter sind der Himmel und die Erdmutter und der vom Himmel fallende Regen, der die Erde befruchtet«, sagte ich. »Soviel ich verstehe, ist der Gott Kretas das Meer, da Kretas Macht und Reichtum vom Meer abhängen.«
»Vielleicht hast du recht, Sinuhe«, sagte er mit einem merkwürdigen Lächeln. »Wisse jedoch, daß wir Kreter einen lebendigen Gott anbeten und uns darin von den Völkern des Festlandes unterscheiden, welche nur tote Götter und hölzerne Bildnisse anbeten. Unser Gott ist kein Bild, obgleich die Stiere als seine Sinnbilder gelten; solange unser Gott lebt, währt auch Kretas Macht auf dem Meer. So ist es prophezeit, und wir sind dessen gewiß, obwohl wir uns auch nicht wenig auf unsere Kriegsschiffe verlassen, mit denen sich die Flotte keines anderen seefahrenden Volkes messen kann.«
»Ich habe gehört, daß euer Gott in den Irrgängen eines dunklen Hauses wohnt«, fuhr ich halsstarrig fort. »Ich möchte gerne das Labyrinth sehen, von dem ich so viel vernommen habe. Ich verstehe nicht, warum die Geweihten niemals von dort zurückkehren, obwohl es ihnen gestattet ist, nach einem Mondumlauf das Haus des Gottes zu verlassen.«
»Die größte Ehre und das wunderbarste Glück, die einem Jüngling oder Mädchen Kretas widerfahren können, bestehen darin, das Haus des Gottes betreten zu dürfen«, betonte Minotaurus und wiederholte damit nur, was ich bereits unzählige Male gehört hatte. »Deshalb wetteifern denn auch die Meerinseln, ihre schönsten Jungfrauen und besten Jünglinge zum Tanz vor den Stieren herzusenden, damit sie sich an der Auslosung beteiligen dürfen. Ich weiß nicht, ob du die Sagen von den Sälen des Meergottes kennst, wo das Leben so verschieden vom irdischen Dasein ist, daß keiner, der sie betreten, wieder zur Erde mit all ihrer Not und Qual zurückkehren will. Oder fürchtest du, Minea, dich etwa, das Haus des Gottes zu betreten?«
Als nun Minea keine Antwort gab, sagte ich: »Am Strand von Simyra habe ich die Leichen ertrunkener Seeleute gesehen; ihre Gesichter waren geschwollen und ihre Bäuche aufgebläht, und in ihren Zügen war keine Freude zu lesen. Das ist alles, was ich über die Säle des Meergottes weiß. Aber ich bezweifle deine Worte keineswegs und wünsche Minea alles Gute.« Minotaurus meinte kühl: »Du wirst das Labyrinth schon zu sehen bekommen; es dauert nicht mehr viele Tage bis zum nächsten Vollmond, und in jener Nacht wird Minea das Haus des Gottes betreten.«
»Und wenn Minea sich weigern sollte?« fragte ich heftig; denn seine Worte erregten mich und ließen mein Herz in Hoffnungslosigkeit erstarrten.
»Das ist noch nie vorgekommen«, erklärte Minotaurus. »Du kannst sicher sein, Sinuhe, Ägypter, daß Minea nach dem Tanz vor unseren Stieren das Haus der Götter aus freiem Willen betreten wird.« Er setzte den goldenen Stierkopf wieder auf, zum Zeichen, daß wir uns entfernen sollten, und wir sahen sein Gesicht nicht mehr. Minea nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus. Fortan hatte ihr Frohsinn sie verlassen.
3
Bei meiner Rückkehr in die Herberge fand ich Kaptah, der in den Hafenschenken reichlich Wein genossen hatte. Er wandte sich an mich: »Herr, für einen Diener ist dies das Land des Westens! Keiner schlägt hier seinen Diener mit Stöcken, und keiner entsinnt sich, wieviel Gold er in seiner Börse hatte, noch was für Schmuck er gekauft. Wahrlich, Herr, für einen Diener ist dies ein irdisches Land des Westens; denn wenn ein Herr seinem Diener zürnt und ihm befiehlt, sein Haus zu verlassen, was die schwerste Strafe bedeutet, so braucht sich dieser nur zu verstecken, um am folgenden Tag wiederzukehren; bis dahin hat der Herr bereits alles vergessen. Für die Seeleute und die Sklaven des Hafens aber ist es ein böses Land: die geizigen Verwalter bedienen sich scharfer Stöcke, und die Kaufleute betrügen einen Mann aus Simyra ebenso leicht, wie ein Mann aus Simyra einen Ägypter betrügt. Aber in Lehmkrügen haben sie kleine in Öl eingemachte Fische, die zum Wein vortrefflich schmecken. Dem Wohlgeschmack dieser Fische zuliebe verzeihe ich ihnen manches.«
Das alles äußerte er auf seine gewohnte Art, als wäre er betrunken; alsdann aber schloß er die Tür, und nachdem er sich vergewissert, daß uns niemand belauschte, sagte er: »Herr, seltsame Dinge geschehen in diesem Lande! In den Weinstuben behaupten die Seeleute, daß der Gott Kretas gestorben sei und die verängstigten Priester einen neuen Gott suchen. Doch diese Reden sind gefährlich, und bereits sind dafür Seeleute von den Klippen ins Meer gestürzt worden, den Tintenfischen zum Fraß. Es ist nämlich prophezeit, daß Kretas Macht mit dem Tod des Gottes gebrochen werde.«
Da erwachte eine wahnwitzige Hoffnung in meinem Herzen, und ich sagte zu Kaptah: »Beim nächsten Vollmond betritt Minea das Haus des Gottes. Wenn ihr Gott jedoch wirklich tot sein sollte – was nicht ausgeschlossen ist, denn das Volk weiß schließlich alles, auch das, was man ihm zu verheimlichen trachtet –, dann kehrte Minea vielleicht aus seinem Haus, aus dem es bis jetzt keine Rückkehr mehr gab, zurück!«
Am Tag darauf erhielt ich unter Hinweis auf Mineas Nummer einen guten Platz im Zuschauerring der großen Stierarena, deren Steinbänke treppenartig aufgebaut waren, so daß jede Bank die vorhergehende überragte und die Stiere von jedem Platz aus leicht sichtbar waren. Ich bewunderte und bestaunte diese weise Anordnung. Ich hatte noch nirgends etwas Ähnliches gesehen; denn in Ägypten werden eigens für den Festzug und die Vorstellungen der Götter hohe Schaugerüste aufgeführt, damit ein jeder den Gott, die Priester und die Tänzer sehen kann.
Die Stiere wurden nun hintereinander in die Arena gelassen, und die Tänzer führten der Reihe nach ihre anstrengenden Tänze durch, zu denen vielerlei verschiedenartige Kunststücke gehörten, die alle fehlerlos und in bestimmter Reihenfolge vorzuführen waren. Am schwierigsten waren der Aufschwung zwischen den Hörnern des Stieres, der darauffolgende Luftsprung und das Radschlagen, nach welchem der Tänzer stehend auf dem Rücken des Stieres landen sollte. Nicht einmal der Geschickteste vermochte das alles tadellos durchzuführen, weil es nicht von ihm allein, sondern ebensosehr von dem Stier und seinen Bewegungen abhing. Die vornehmen und reichen Kreter gingen vor jeder Nummer untereinander Wetten ein, und jeder setzte auf seinen Favoriten. Nachdem ich aber einige Programmnummern gesehen, konnte ich ihren grenzenlosen Eifer nicht mehr verstehen; denn die Stiere langweilten mich, und ich fand das Ganze so eintönig, daß ich einen Auftritt nicht vom anderen zu unterscheiden vermochte. Auch Minea tanzte vor den Stieren, und ich zitterte für ihr Leben, bis mich ihre wunderbare Gewandtheit und Geschmeidigkeit so bezauberten, daß ich nicht länger an die Gefahr, der sie sich aussetzte, dachte, sondern mit den anderen jubelte. Hier tanzten Mädchen und Jünglinge nackt vor den Stieren; denn ihre Kunst war so verräterisch, daß selbst das geringste Kleidungsstück ihre Bewegungen hätte hindern und ihr Leben in Gefahr bringen können. Minea mit ihrem von Öl glänzenden Leib schien mir die schönste von allen Tänzerinnen, obwohl ich zugeben mußte, daß es auch unter den übrigen sehr schöne Mädchen gab, die sich großen Beifalls erfreuten. Ich aber hatte nur Augen für Minea. Nach der langen Abwesenheit war sie ungeübt und eroberte denn auch keinen einzigen Kranz. Ihr alter Gönner, der auf sie gesetzt hatte, war sehr ungehalten und erbittert darüber, bis er schließlich sein verlorenes Silber vergaß und sich in die Stallungen hinüber begab, um sich neue Stiere und Nummern auszusuchen, wozu er als Gönner Mineas berechtigt war.
Als ich Minea nach der Vorstellung im Haus der Stiere traf, blickte sie sich um und sagte kalt: »Sinuhe, ich kann mich dir nicht mehr widmen. Meine Freunde haben mich zu ihrem Gastmahl eingeladen. Ich muß mich auch für den Gott bereitmachen; denn schon übermorgen nacht ist Vollmond. Deshalb werden wir uns vermutlich nicht mehr sehen, bis ich das Haus des Gottes betrete, falls du dann Lust hast, mir mit meinen übrigen Freunden des Geleit dorthin zu geben.«
»Dein Wille geschehe«, sagte ich. »Zweifellos gibt es auf Kreta viel zu sehen, und die Sitten dieses Landes wie auch die Kleidung der Frauen ergötzen mich sehr. Als ich an dem mit deiner Nummer versehenen Platz saß, haben mich bereits mehrere deiner Freundinnen zu sich nach Hause eingeladen, und der Anblick ihrer Gesichter und ihrer Brüste gefiel mir, obgleich sie etwas beleibter und leichtsinniger als du zu sein scheinen.«
Da packte sie mich heftig beim Arm, ihr Atem ging stoßweise, und mit flammenden Augen sagte sie: »Ich gestatte dir nicht, dich mit meinen Freundinnen zu unterhalten, wenn ich nicht dabei bin! Mir zuliebe könntest du wenigstens warten, bis ich nicht mehr da bin, Sinuhe. Obgleich ich in deinen Augen sicherlich zu mager bin, woran ich übrigens bis jetzt noch nie gedacht habe, kannst du aus Freundschaft für mich verzichten, wenn ich darum bitte.«
»Ich habe bloß gescherzt«, sagte ich, »und will dich gewiß nicht stören; denn du hast natürlich noch vieles zu besorgen, bevor du das Haus des Gottes betrittst. Ich gehe daher in die Herberge, um Kranke zu heilen; im Hafen gibt es viele, die meiner Kunst bedürfen.«
Ich entfernte mich, und noch lange spürte ich in der Nase den Geruch der Stiere. Niemals werde ich den Gestank im Stierhaus auf Kreta vergessen können, und heute noch macht mich der Anblick und der Geruch einer Stierherde krank, so daß ich nichts essen kann und das Herz mich schmerzt. Ich ging also zur Herberge und empfing Patienten, linderte ihre Schmerzen und heilte sie, bis es dunkler Abend ward und die Lichter in den Freudenhäusern des Hafenviertels angezündet wurden. Durch Wände und Mauern hindurch vernahm ich Musik und Lachen und alle Stimmen menschlicher Sorglosigkeit; denn auch die Sklaven und Diener auf Kreta hatten von der Unbekümmertheit ihrer Herren gelernt, und ein jeder lebte, als müßte er niemals sterben und als gäbe es weder Schmerz noch Kummer noch Trauer auf der Welt.
Ich saß in meinem dunklen Zimmer, in welchem Kaptah bereits die Schlafmatten ausgebreitet hatte, und wollte keine Lampe anzünden. Der Mond ging groß und leuchtend auf, obwohl er noch nicht voll war, und ich fühlte, daß ich ihn haßte, weil er mich von der einzigen, die ich im Leben als meine Schwester betrachtete, trennen würde. Ich haßte auch mich selbst, weil ich schwach und furchtsam war und nicht wußte, was ich tun wollte. Da ging die Tür auf, Minea trat leise ein und blickte um sich; sie war nicht mehr nach kretischer Art gekleidet, sondern trug das gleiche schlichte Gewand, in welchem sie in vielen Ländern vor hoch und niedrig getanzt, und das Haar hatte sie mit einem goldenen Band durchflochten.
»Minea!« sagte ich erstaunt. »Weshalb kommst du zu mir, statt dich, wie ich glaubte, für deinen Gott vorzubereiten?«
Sie aber sprach: »Rede leiser, damit uns niemand hört!« Sie setzte sich neben mich, betrachtete den Mond und sagte launig: »Mein Lager im Haus der Stiere gefällt mir nicht, und ich fühle mich nicht wie früher wohl unter meinen Freunden. Aber weshalb ich gerade zu dir in diese Herberge des Hafenviertels gekommen bin, obgleich sich dies nicht schickt, kann ich nicht sagen. Wenn du schlafen willst, werde ich dich nicht stören, sondern wieder gehen. Als ich keinen Schlaf finden konnte, bekam ich Lust, noch einmal den Duft von Arzneien und Kräutern zu spüren und Kaptah wegen seiner törichten Reden beim Ohr zu nehmen und beim Haar zu zupfen. Das Reisen und die fremden Völker haben mir zweifellos den Sinn verwirrt, da ich das Haus der Stiere nicht mehr wie einst als mein Heim empfinden noch mich über den Beifall in der Arena freuen oder gar Sehnsucht nach dem Haus des Gottes verspüren kann. Der Menschen Reden um mich herum klingen in meinen Ohren wie das Lallen einfältiger Kinder, ihre Freude ist wie Wellenschaum am Strand, und ihre Vergnügungen ergötzen mich nicht mehr. Mein Herz gleicht einer leeren Höhle, auch mein Kopf ist hohl, und ich hege keinen einzigen Gedanken mehr, den ich mein eigen nennen könnte; alles tut mir weh, und noch nie zuvor ist mir so traurig zumute gewesen. Deshalb bitte ich dich, meine Hand wie einst eine Weile in der deinigen zu halten; denn ich fürchte nichts mehr, nicht einmal den Tod, wenn du, Sinuhe, nur meine Hände hältst, obwohl ich weiß, daß du lieber schönere und beleibtere Frauen als mich betrachtest und bei der Hand hältst.«
Ich sprach zu ihr: »Minea, meine Schwester, meine Kindheit und Jugend waren wie ein klarer tiefer Bach, meine späteren Jahre aber gleichen einem großen Fluß, der sich weit ausbreitet und viel Erde bedeckt, dessen Wasser aber seicht ist, im Laufe stockt und fault. Doch als du zu mir kamst, Minea, sammeltest du alle Wasser, daß sie sich jubelnd in ein tiefes Bett vereinten; da ward alles in meinem Innern geläutert, und alles Böse schien mir nichts als Spinngewebe, das man mühelos mit der Hand beseitigt. Dir zuliebe wollte ich gut sein und Menschen heilen, ohne auf die Geschenke zu achten, die sie mir dafür gaben; die dunklen Götter besaßen keine Macht mehr über mich. So ist es gewesen, seit du zu mir kamst. Doch wenn du mich jetzt verläßt, verdunkelt sich alles um mich herum, mein Herz gleicht einem einsamen Raben in der Wüste, und ich bin den Menschen nicht mehr gut gesinnt, sondern hasse sie, und sogar die Götter hasse ich und will nichts mehr von ihnen wissen. So ist es, Minea, und deshalb sage ich dir: es gibt auf Erden viele Länder, aber bloß einen einzigen Strom. Folge mir in das schwarze Land am Stromufer, wo die Wildenten im Schilf schnattern und die Sonne täglich in ihrem goldenen Nachen über den Himmel rudert! Komm mit mir, Minea, laß uns zusammen einen Krug zerbrechen und Mann und Frau werden und nie mehr voneinander scheiden! Dann wird uns das Leben leicht, und nach dem Tod werden unsere Leiber erhalten bleiben, damit wir uns im Land des Westens wiedersehen und in Ewigkeit zusammen leben.«
Aber sie preßte meine Hände in die ihrigen, berührte mit den Fingerspitzen meine Augen, meinen Mund und meinen Hals und sagte: »Sinuhe, selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht mehr folgen. Es gibt kein einziges Schiff, das uns von Kreta fortzubringen, und keinen Kapitän, der uns in seinem Fahrzeug zu verstecken wagte. Man bewacht mich des Gottes wegen, und ich will nicht, daß man dich um meinetwillen tötet. Wenn ich auch wollte, könnte ich dich nicht begleiten; denn seit ich wieder vor den Stieren getanzt habe, ist ihr Wille stärker als der meinige, was ich dir zwar nicht erklären kann, weil du es nicht selbst erlebt hast. Deshalb muß ich in der Nacht des Vollmonds das Haus des Gottes betreten, und keine Macht der Welt kann mich daran hindern. Weshalb es so ist, kann ich nicht erklären. Vielleicht weiß es niemand außer Minotaurus.«
Das Herz war mir leer wie ein Grab, als ich sagte: »Ober den morgigen Tag weiß man nichts, aber ich glaube nicht, daß du aus dem Haus des Gottes, aus dem noch niemand zurückgekommen ist, wiederkehren wirst. In den goldenen Sälen des Meergottes wirst du vielleicht ewiges Leben aus dem Götterbrunnen trinken und alles Irdische, auch mich, vergessen, obwohl ich es nicht glaube; denn das sind lauter Märchen, und nichts von alldem, was ich bis heute in sämtlichen Ländern von den Göttern gesehen, war dazu angetan, meinen Glauben an die Märchen zu stärken. Wisse daher: Wenn du nicht nach Ablauf der festgesetzten Zeit zurückkehrst, werde ich dir in das Haus des Gottes folgen und dich dort abholen! Ich werde dich holen, selbst wenn du nicht mehr zurückkehren wolltest. Das tue ich, Minea, und sollte es meine letzte Tat auf Erden werden.«
Sie aber legte mir ängstlich die Hand auf den Mund, blickte sich um und sagte: »Still! So etwas darfst du nicht laut äußern, ja nicht einmal denken! Das Haus des Gottes ist ein dunkles Haus, in dem kein Fremder sich zurechtfindet; und wenn ein Ungeweihter es betritt, muß er eines fürchterlichen Todes sterben. Auch könntest du nicht hineingelangen; denn das Haus des Gottes ist durch kupferne Tore gesperrt. Darüber bin ich froh, weil ich weiß, daß du es in deinem Wahn wirklich tun und dich ins Verderben stürzen könntest. Aber glaube mir, ich werde freiwillig zu dir zurückkehren! Mein Gott kann nicht so grausam sein, mir die ersehnte Rückkehr zu dir zu verweigern. Er ist ein wunderbarer, herrlicher Gott, der die Macht Kretas stützt und allen gut gesinnt ist und daher die Olivenbäume gedeihen, das Getreide auf den Äckern reifen und die Schiffe von Hafen zu Hafen segeln läßt. Er sorgt für günstige Winde und steuert die Schiffe durch den Nebel, damit seinen Schutzbefohlenen nichts geschehe. Warum sollte er mir Schlechtes antun wollen?«
Sie war von Kindheit an im Schatten ihres Gottes aufgewachsen, ihre Augen waren verblendet, und ich konnte sie nicht sehend machen, obgleich ich Blinde mit der Nadel geheilt und ihnen das Gesicht wiedergegeben hatte. Da zog ich sie in der Wut meiner Machtlosigkeit auf den Schoß, küßte sie und streichelte ihre Glieder, und ihre Glieder waren glatt wie Glas, und wie ich sie in den Armen hielt, war sie für mich wie der Quell für einen Wüstenwanderer. Sie wehrte sich nicht, sondern preßte zitternd ihr Gesicht an meinen Hals, und ihre Tränen rannen heiß darüber, als sie sprach:
»Sinuhe, mein Freund, falls du an meiner Rückkehr zweifelst, will ich mich dir nicht mehr verweigern; du magst mit mir tun, was du willst, wenn es dir Freude bereitet, obgleich ich auch nachher sterben müßte; denn in deinen Armen fürchte ich den Tod nicht, und alles ist bedeutungslos im Vergleich damit, daß mein Gott mich von dir trennt.«
Ich fragte sie: »Würde es dir Freude bereiten?«
Zögernd gab sie zur Antwort: »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß mein Leib unruhig und untröstlich ist, sobald ich fern von dir bin. Ich weiß nur, daß meine Augen sich umnebeln und meine Knie schwach werden, sobald du mich berührst. Früher haßte ich mich deswegen und fürchtete deine Berührung, denn früher war alles klar in meinem Innern, und nichts trübte meine Freude. Ich war bloß stolz auf meine Kunst, auf die Geschmeidigkeit meines Leibes und auf meine Unberührtheit. Jetzt aber weiß ich, daß deine Berührung mir lieb ist, selbst wenn sie mir Schmerz bereitet. Trotzdem aber weiß ich nicht, ob du mir mit dem, was du mir tun möchtest, Freude bereiten würdest, und vielleicht wäre ich im Gegenteil nachher betrübt. Doch wenn es dir Freude macht, so zögere nicht, es zu tun; denn deine Freude ist meine Freude, und ich hege keinen höheren Wunsch, als dir Freude bereiten zu dürfen.« Da ließ ich sie aus meinen Armen los und berührte mit der Hand ihr Haar, ihre Augen, ihren Hals und sagte: »Es genügt mir, daß du so zu mir kommst, wie du damals warst, als wir zusammen auf den Wegen Babylons wanderten. Gib mir das goldene Band aus deinem Haar, ich bin damit zufrieden, und mehr begehre ich nicht von dir.«
Sie aber sah mich zweifelnd an, strich sich mit den Händen über die Lenden und sagte: »Vielleicht bin ich dir zu mager; du glaubst wohl, mein Leib könnte dich nicht ergötzen, und eine leichtfertigere Frau als ich wäre dir lieber. Aber wenn du willst, werde ich mich bemühen, so leichtfertig wie möglich zu sein und deine Begehren zu erfüllen, damit ich dich nicht enttäusche; denn ich möchte dir so viel Freude bereiten, wie ich nur kann.«
Ich lächelte sie an und strich mit den Händen über ihre glatten Schultern, indem ich sprach: »Minea, in meinen Augen ist keine Frau schöner als du, und keine könnte mir größere Freuden als du bereiten. Aber ich will dich nicht bloß zu meinem Ergötzen berühren; denn es würde dich selbst nicht ergötzen, weil du deines Gottes wegen unruhig bist. Aber ich weiß etwas anderes, was wir tun können und was uns beiden Freude machen wird. Laß uns nach der Sitte meines Landes einen Krug nehmen und ihn gemeinsam zerbrechen! Hernach sind wir Mann und Frau, obgleich ich dich noch nicht berühre und keine Priester als Zeugen amten und unsere Namen in das Buch des Tempels schreiben können. Ich werde Kaptah einen Krug holen lassen, damit wir zur Handlung schreiten.«
Ihre Augen weiteten sich und glänzten im Mondschein, sie klatschte in die Hände und lächelte vor Freude. Ich wollte nach Kaptah suchen, er aber saß auf dem Boden vor meiner Zimmertür, trocknete sich das nasse Gesicht mit dem Handrücken und brach bei meinem Anblick in lautes Schluchzen aus. »Was gibt es denn, Kaptah?« fragte ich. »Weshalb weinst du?«
Kaptah erklärte ohne Schamgefühl: »Herr, ich habe ein weiches Herz und habe mich des Weinens nicht enthalten können, als ich hörte, was ihr, du und dieses schmalhüftige Mädchen, in deinem Zimmer spracht. Noch nie habe ich etwas so Rührendes gehört.«
Zornig versetzte ich ihm einen Fußtritt und fragte: »Willst du damit sagen, daß du an der Tür gehorcht und unser ganzes Gespräch belauscht hast?«
Kaptah antwortete mit unschuldiger Miene: »Gerade das wollte ich sagen. Denn vor deiner Tür drängten sich andere Lauscher, die nichts bei dir zu tun hatten, sondern das Mädchen ausspionieren wollten. Deshalb jagte ich sie mit deinem Stock fort und setzte mich vor deine Tür, um über deine Ruhe zu wachen, weil ich annahm, du wolltest nicht mitten in einer so wichtigen Unterhaltung gestört werden. Aber während ich hier saß, konnte ich es nicht vermeiden, euer Gespräch mit anzuhören, und es war so schön, wenn auch kindisch, daß ich ganz einfach weinen mußte.«
Nach diesen Worten konnte ich ihm nicht länger grollen, sondern sagte: »Da du gelauscht hast, weißt du bereits, was ich wünsche. Beeile dich also, einen Krug zu holen!« Er aber machte Ausflüchte, indem er sagte: »Was für einen Krug wünschest du, Herr? Einen Lehmkrug oder einen Steinkrug, einen bemalten oder unbemalten, einen hohen oder niedrigen, einen weiten oder engen?«
Ich schlug ihn mit dem Stock, aber nur leicht, denn mein Herz war gegen alle Menschen gütig gestimmt, und ich antwortete: »Du weißt ganz gut, was ich meine, und weißt auch, daß jeder beliebige Krug für meine Zwecke taugt. Mach also keine Ausflüchte, sondern bring mir rasch den ersten besten Krug, der dir unter die Hände kommt.«
Er sagte: »Ich bin schon unterwegs, ich laufe und eile, aber ich wollte dir nur noch ein wenig Bedenkzeit lassen. Das Zerbrechen eines Kruges mit einer Frau bedeutet einen wichtigen Schritt im Leben eines Mannes und sollte nicht voreilig und unüberlegt vorgenommen werden! Aber natürlich bringe ich dir einen Krug, wenn es dein Wunsch ist und ich es nicht verhindern kann.«
So brachte uns denn Kaptah einen alten, nach Fisch riechenden Ölkrug, den wir, Minea und ich, gemeinsam zerschlugen. Kaptah war unser Zeuge, als wir Mann und Frau wurden. Er legte sein Genick unter Mineas Fuß und sagte: »Von dieser Stunde an bist du meine Herrin, die ebenso wie mein Herr und vielleicht sogar noch mehr über mich zu befehlen hat; aber ich hoffe trotzdem, daß du mir kein heißes Wasser über die Füße gießen wirst, wenn du mir zürnst, und ebenso hoffe ich, daß du weiche Pantoffeln ohne Absatz trägst; ich sehe nicht gern Absätze an Pantoffeln, weil sie mir Beulen und Schrammen am Kopf hinterlassen. Jedenfalls werde ich dir ebenso treu wie meinem Herrn dienen; denn aus irgendeinem mir unbekannten Grund habe ich dich in mein Herz geschlossen, obgleich du mager bist und deine Brüste klein sind und ich nicht verstehen kann, was mein Herr an dir schön zu finden glaubt. Auch werde ich dich ebenso gewissenhaft bestehlen wie meinen Herrn, das heißt: ich will beim Stehlen mehr auf deinen als auf meinen Vorteil bedacht sein.« Nach diesen Worten übermannte ihn die Rührung, und er begann wiederum zu weinen und sogar laut zu jammern. Minea strich ihm mit der Hand über den Rücken, tätschelte seine dicken Wangen und tröstete ihn, bis er sich beruhigte, worauf ich ihn die Scherben aufheben und das Zimmer verlassen hieß.
In dieser Nacht schliefen Minea und ich wie früher zusammen; sie lag in meinen Armen, ihr Atem streifte meinen Hals, und ihr Haar streichelte meine Wange. Aber ich nahm sie nicht. Was ihr keine Freude machen konnte, hätte auch mir keine bereitet. Auch glaubte ich, daß meine Freude tiefer und größer war, sie als eine Jungfrau in den Armen zu halten, als wenn ich sie geschwächt hätte. Mit Sicherheit kann ich es zwar nicht behaupten, da ich nicht weiß, welche Freude mir ihr Besitz bereitet haben würde. Eines aber weiß ich: in jener Nacht erfüllte mich ein grenzenloses Wohlwollen gegenüber allen Menschen. In meinem Herzen rührte sich kein einziger böser Gedanke, jeder Mann war mein Bruder, jedes Weib meine Mutter und jedes Mädchen meine Schwester – sowohl in dem schwarzen Lande als auch in allen roten Landen unter dem gleichen mondbestrahlten Himmel.
4
Am folgenden Tag tanzte Minea wiederum vor den Stieren, und mein Herz zitterte um sie. Doch stieß ihr nichts zu. Hingegen glitt ein Jüngling von der Stirn des Stieres zu Boden, und der Stier schlitzte ihm mit den Hörnern den Leib auf und zerstampfte ihn unter den Hufen, wobei sich die Zuschauer in der Arena erhoben und vor Schrecken und Entzücken in laute Rufe ausbrachen. Nachdem man den Stier fortgeschafft und den Tänzer in den Stall getragen, liefen die Frauen herbei, um ihn anzusehen, seine blutigen Glieder zu berühren und heftig atmend das blutige Bild zu beschwatzen. Die Männer aber meinten: »Schon lange haben wir keinen so gelungenen Wettbewerb mehr gesehen!« Sie zahlten einander ohne Bedauern ihre Wetten aus und wogen Gold und Silber ab, worauf sie Zechgelage in ihren Häusern veranstalteten, aus denen das Licht bis spät in die Nacht die Stadt erhellte und die Frauen sich von ihren Männern weg auf fremde Lager verirrten, was aber niemand mißbilligte, weil es eben Sitte war.
Ich aber lag allein auf meiner Matte; denn in jener Nacht konnte Minea nicht mehr zu mir kommen. Am frühen Morgen mietete ich im Hafen eine Sänfte, um ihr das Geleit zum Haus des Gottes zu geben. Sie wurde in einem goldenen, von Pferden mit Federbüschen gezogenen Wagen hingebracht, und ihre Freunde, die ihr in Sänften oder zu Fuß folgten, lachten und lärmten und bewarfen sie mit Blumen und blieben am Straßenrand zurück, um Wein zu trinken. Der Weg war lang; aber alle führten reichlich Mundvorrat mit, brachen Zweige von den Olivenbäumen und fächelten einander Kühlung damit zu und erschreckten die Schafe armer Bauersleute und sannen allerlei andere Streiche aus. Das Haus des Gottes lag an einem einsamen Ort, am Fuß eines Berges, unweit des Meerufers. Als wir uns ihm näherten, verstummte das Gelächter, und alle redeten nur noch flüsternd miteinander.
Wie das Haus des Gottes aussah, läßt sich nicht leicht beschreiben. Es glich einer mit Gras und Blumen bewachsenen Anhöhe, die sozusagen in den Berg überging. Der Zutritt war durch hohe Kupfertore gesperrt, vor denen ein kleiner Tempel stand, wo die Weihe vor sich ging und die Wächter des Gottes wohnten. Erst gegen Abend langte der Festzug dort an. Mineas Freunde stiegen aus ihren Sänften, ließen sich auf dem Rasen nieder, aßen, tranken, trieben allerlei Schabernack und dachten schon nicht mehr daran, sich wie beim ersten Anblick des Gotteshauses feierlich zu verhalten; denn die Kreter sind kurz von Gedächtnis. Bei Eintritt der Dunkelheit zündeten sie Fackeln an und schäkerten miteinander in den Gebüschen, aus denen das Kreischen der Frauen und das Lachen der Männer durch die Finsternis drangen, während Minea allein im Tempel blieb. Denn niemand durfte sich ihr mehr nähern.
Von ferne betrachtete ich sie, wie sie im Tempel saß. Gleich dem Bildnis einer Göttin trug sie ein goldenes Gewand und eine hohe goldene Kopfbedeckung, und sie versuchte mir zuzulächeln; aber in ihrem Lächeln lag keine Freude. Nachdem der Mond aufgegangen, nahm man ihr das goldene Kleid und den Schmuck ab, hüllte sie in Schleier und band ihr Haar in ein Silbernetz. Darauf entriegelten die Wächter die Kupfertore, die sich mit dumpfem Dröhnen auftaten, wobei jeder Flügel von zehn Mann geschoben werden mußte; dahinter gähnte Finsternis. Keiner äußerte mehr ein Wort; es herrschte tiefes Schweigen. Minotauros umgürtete sich mit seinem Schwert und setzte das goldene Stierhaupt auf, so daß er nicht mehr einem Menschen glich. Minea erhielt eine brennende Fackel in die Hand, und Minotauros geleitete sie in das dunkle Haus, bis sie beide dahinschwanden und der Fackelschein verblaßte. Nun wurden die dröhnenden Kupfertore wieder zugeschoben und mit den mächtigen Riegeln verschlossen, wozu es der Kraft vieler starker Männer bedurfte, und ich sah Minea nicht mehr.
Bei diesem Geschehen befiel mich eine so unsägliche Verzweiflung, daß mein Herz einer offenen Wunde glich, durch die mir alles Blut aus dem Körper strömte und alle Kraft mich verließ, bis ich in die Knie brach und mit dem Gesicht auf die Erde sank. In jenem Augenblick erkannte ich mit unumstößlicher Gewißheit, daß ich Minea niemals wiedersehen werde, obgleich sie mir versprochen hatte, aus dem Haus des Gottes zu mir zurückzukehren, um mit mir zu leben. Ich wußte, daß sie nie mehr wiederkehren würde; aber wieso ich es zu jener Stunde wußte, kann ich nicht sagen. Bis dahin hatte ich noch im ungewissen geschwebt, hatte geglaubt und gezweifelt, gefürchtet und gehofft und mir einzubilden versucht, daß der Gott Kretas sich anders als alle anderen Götter verhalten und Minea um ihrer Liebe willen, die sie an mich fesselte, entlassen würde. Jetzt aber hegte ich keine Hoffnung mehr, sondern lag mit dem Gesicht auf dem Boden, während Kaptah neben mir kauerte und, den Kopf in den Händen wiegend, jammerte. Die Reichen und Vornehmen Kretas aber zündeten ihre Fackeln an, liefen mit diesen an mir vorbei, führten kunstreiche Tänze auf und sangen Lieder, deren Worte ich nicht erfaßte. Als sich die Kupfertore geschlossen, wurden alle von einer großen Aufregung befallen: in toller Ausgelassenheit sprangen und tanzten sie bis zur Erschöpfung, und ihr Rufen klang in meinen Ohren wie Krächzen der Raben von einer Mauer herab.
Nach einer Weile hielt Kaptah in seinem Wehklagen inne und sprach: »Wenn mein Auge mich nicht trügt – was nicht der Fall sein dürfte, nachdem ich noch nicht genügend getrunken, um die Dinge doppelt zu sehen –, so ist das gehörnte Haupt aus dem Berg herausgekommen, wenn ich auch nicht verstehe, auf welchem Weg es geschah, da niemand die Kupfertore geöffnet hat.«
Seine Aussage stimmte. Minotauros war wirklich aus dem Haus des Gottes zurückgekehrt, und sein goldenes Stierhaupt glänzte schreckenerregend im Mondschein, als er sich dem Festtanz der anderen anschloß. Bei seinem Anblick vermochte ich mich nicht mehr zu beherrschen, sondern erhob mich, stürmte auf ihn zu, packte ihn bei den Armen und fragte: »Wo ist Minea?« Er schüttelte meine Hände ab und wiegte den Stierkopf; doch als ich nicht von ihm wich, entblößte er das Gesicht und sprach zornig: »Es ist nicht gestattet, die heiligen Riten zu stören. Da du es aber als Fremder wohl nicht weißt, will ich dir verzeihen, wenn du mich nicht mehr anrührst.«
»Wo ist Minea?« wiederholte ich meine Frage, und schließlich beantwortete er sie, indem er sagte: »Ich habe Minea, wie vorgeschrieben, in der Finsternis des Gotteshauses gelassen und bin selbst zurückgekehrt, um mich an dem Festtanz zu Ehren des Gottes zu beteiligen. Was willst du noch von Minea? Dafür, daß du sie zurückgebracht, hast du ja deinen Lohn bereits erhalten.«
»Wie konntest du zurückkommen, wenn es ihr nicht möglich war?« fragte ich und drängte mich dicht vor ihn hin; er aber stieß mich von sich, und alsbald trennten uns die Tanzenden. Kaptah nahm mich beim Arm und zog mich beiseite. Das war sicher klug gehandelt; denn ich weiß nicht, was sonst geschehen wäre. Er sagte: »Du bist töricht, so viel Aufhebens zu machen, und tätest besser daran, mit den anderen zu tanzen, zu lachen und zu singen; sonst könnte es dir schlecht ergehen. Auch kann ich dir verraten, daß Minotaurus durch die kleine Pforte neben den Kupfertoren herausgekommen ist. Darin liegt nichts Seltsames; denn ich habe mir die Pforte selbst angeschaut und gesehen, wie ein Wächter sie zuschloß und den Schlüssel zu sich nahm. Aber ich rate dir, Herr, Wein zu trinken, um dich zu beruhigen. Dein Gesicht ist verzerrt wie das eines Besessenen, und deine Augen sind starr wie die einer Eule.«
Er gab mir Wein zu trinken, und während das Licht der Fackeln vor meinen Augen hin und her flackerte, schlief ich im Mondschein auf der Wiese ein; denn angesichts meines Zustandes hatte Kaptah in seiner Falschheit Mohnsaft in den Wein gemischt. Somit rächte er sich für das, was ich in Babylon zur Rettung seines Lebens getan; er steckte mich aber nicht in einen Krug, sondern breitete eine Decke über mich aus und hinderte die Tanzenden daran, auf mich zu treten. Vielleicht rettete er mir dadurch jetzt seinerseits das Leben; denn in meiner Verzweiflung hätte ich vielleicht Minotauros das Messer in den Leib gerannt und ihn getötet. Die ganze Nacht saß Kaptah bei mir, bis der Weinkrug leer war, worauf er neben mir einschlief und mir den Weindampf ins Ohr blies.
Erst spät am folgenden Tag erwachte ich. Das Mittel war so stark gewesen, daß ich mich anfangs nicht erinnern konnte, wo ich mich befand. Als ich mich schließlich dessen und der vorangegangenen Ereignisse entsann, war ich ganz ruhig und klar im Kopf und tobte dank der Arznei nicht von neuem. Viele Teilnehmer des Festzuges waren bereits in die Stadt zurückgekehrt. Aber einige schliefen immer noch in den Gebüschen, Männer und Frauen durcheinander mit schamlos entblößten Leibern, denn sie hatten bis zum Morgen Wein getrunken und getanzt. Beim Erwachen zogen sie sich wieder an, und die Frauen ordneten ihr Haar.
Sie fühlten sich mit dem Dasein nicht zufrieden, weil sie nicht baden konnten; denn das Wasser der Bäche war zu kalt für sie, die an das aus den Silberhähnen ihrer Badezimmer rinnende heiße Wasser gewohnt waren. Aber sie spülten sich den Mund, rieben sich die Gesichter ein, malten die Lippen, färbten die Augenbrauen, gähnten und fragten einander: »Wer bleibt hier, um Minea zu erwarten? Und wer kehrt in die Stadt zurück?« Die meisten hatten genug von den Spielen auf den Wiesen und in den Gebüschen und kehrten im Laufe des Tages in die Stadt zurück, und nur die jüngsten und hitzigsten von Mineas Freunden blieben beim Haus des Gottes, um sich weiter miteinander zu ergötzen. Als Grund für ihr Verweilen schützten sie vor, auf Mineas Rückkehr zu warten, obgleich noch nie jemand aus dem Haus des Gottes zurückgekommen war. Sie taten es ganz einfach darum, weil sie in der Nacht jemand gefunden hatten, der ihnen gefiel; die Frauen aber benützten die Gelegenheit, ihre Männer in die Stadt zurückzuschicken, um sie loszuwerden. Als ich dies sah, verstand ich, warum es, außer im Hafen, in der Stadt kein einziges Freudenhaus gab. Nachdem ich an diesem Tag und in der darauffolgenden Nacht ihre Spiele beobachtete, begriff ich auch, daß Mädchen, welche die Liebe als Gewerbe trieben, es schwerlich mit den Frauen Kretas hätten aufnehmen können.
Bevor Minotauros sich entfernte, sagte ich zu ihm: »Darf ich als Fremdling dableiben und mit Mineas Freunden auf ihre Rückkehr warten?« Er warf mir einen bösartigen Blick zu und sagte: »Niemand hindert dich daran; aber soviel ich weiß, liegt im Hafen gegenwärtig ein passendes Schiff, das dich nach Ägypten zurückbringen kann. Dein Warten würde vergeblich sein. Keiner, der dem Gott geweiht wurde, ist jemals aus seinem Haus zurückgekehrt.«
Ich aber spielte den Einfältigen und sagte einschmeichelnd: »Es ist wohl wahr, daß ich eine Schwäche für Minea hatte, obwohl sie auf die Dauer langweilig wurde, weil ich sie ihres Gottes wegen nicht berühren durfte. Offengestanden erwarte ich auch gar nicht, sie wiederkehren zu sehen, sondern gebe nur wie die anderen vor, hierzubleiben, um ihrer zu harren; in Wirklichkeit jedoch tue ich es, weil es hier so viele entzückende Jungfrauen und auch Ehefrauen gibt, die mir gern in die Augen blicken und ihre Brüste verführerisch in die Hände legen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Unter uns gesagt, Minea war ein verflucht eifersüchtiges und heikles Mädchen, das mir keine Freude gönnte, obgleich ich es nicht berühren durfte. Auch muß ich dich wohl um Verzeihung bitten, daß ich mich letzte Nacht betrunken und dich vielleicht unbewußt beleidigt habe, obgleich ich mich dessen nicht mehr recht entsinne; denn mein Kopf ist immer noch umnebelt. Ich erinnere mich bloß noch, dir die Arme um den Hals geschlungen und dich gebeten zu haben, mich die Schritte des Tanzes zu lehren, den du so schön und feierlich vollführtest, wie ich es noch nie gesehen. Sollte ich dich jedoch beleidigt haben, so bitte ich von ganzem Herzen um Verzeihung. Als Fremder kenne ich eure Sitten noch nicht genügend und wußte daher nicht, daß es nicht gestattet ist, dich zu berühren, weil du eine besonders heilige Person bist.«
All das lallte ich mit schwerer Zunge, blinzelte und klagte über Kopfweh, bis er mich für einen Narren hielt und lächelnd sprach: »Wenn dem so ist, will ich deinem Vergnügen kein Hindernis in den Weg legen. Auf Kreta sind wir nicht engherzig. Bleib darum hier, solange es dir behagt, um auf Minea zu warten; aber hüte dich davor, eine zu schwängern. Das würde sich nicht schicken, weil du ein Fremder bist. Mit diesem Rat will ich dich keineswegs beleidigen; ich spreche nur als Mann zu Mann, um dir unsere Sitten zu erklären.«
Ich versicherte, daß ich mich wohl in acht nehmen würde, und plapperte noch allerlei von angeblichen Abenteuern mit Tempeljungfrauen in Syrien und Babylon, bis er mich für einen noch größeren Narren hielt, meiner überdrüssig wurde und, nachdem er mir auf die Schulter geklopft, sich von mir abwandte, um in die Stadt zurückzukehren. Aber ich glaube, daß er die Wächter ermahnte, ein Auge auf mich zu haben, und auch die Kreter aufforderte, mich zu unterhalten; denn eine Weile nach seinem Verschwinden kam eine ganze Schar junger Frauen zu mir. Sie wanden mir Kränze um den Hals, blickten mir tief in die Augen, preßten ihre nackten Brüste gegen meine Arme und zogen mich in das Lorbeergebüsch, um dort Speise und Trank zu genießen. So bekam ich ihre lockeren Sitten und ihre Leichtfertigkeit zu sehen; denn sie empfanden kein Schamgefühl vor mir. Ich trank reichlich Wein und stellte mich betrunken, so daß sie mir Püffe versetzten und mich »Schwein« und »Barbar« nannten. Kaptah kam dazu und führte mich beiseite, indem er mich laut wegen meiner Trunksucht schmähte und sich anerbot, die anderen an meiner Stelle zu ergötzen. Sie betrachteten ihn kichernd und lachend, und die Jünglinge verhöhnten ihn und zeigten mit den Fingern auf seinen dicken Bauch und auf seinen kahlen Hinterkopf. Aber er war schließlich ein Fremdling, und das Fremdartige übt auf die Frauen aller Länder seine Lockung aus: nachdem sie hinreichend gekichert hatten, nahmen sie ihn in ihren Kreis auf, bewirteten ihn mit Wein, steckten ihm Obst in den Mund, preßten sich an ihn, nannten ihn ihren Ziegenbock und entsetzten sich über seinen Geruch, der sie aber dann zu verlocken begann.
So verging der Tag, bis ich ihrer Ausschweifungen und leichtsinnigen Sitten überdrüssig ward und zu dem Schluß kam, daß ich mir kein langweiligeres Leben vorstellen könnte als das ihrige. Launen, die keine Gesetze kennen, langweilen auf die Dauer weit mehr als ein Leben, das Sinn und Zweck besitzt. Sie vertrieben sich die Nacht in gleicher Weise wie zuvor; in meine bitteren Träume drang störend das Gekreisch der Frauen, die anscheinend vor den Jünglingen in die Gebüsche flohen, während diese ihnen im Dunkeln nachliefen und nach ihren Kleidern haschten, um sie ihnen vom Leibe zu reißen. Am Morgen darauf jedoch waren sie müde und angewidert, weil sie nicht baden konnten; daher kehrten die meisten an diesem Tag in die Stadt zurück, und nur die Jüngsten und Hitzigsten blieben vor den Kupfertoren.
Am dritten Tag traten auch die letzten den Heimweg an, und ich ließ sie meine Sänfte, die immer noch auf mich wartete, mitnehmen; denn sie vermochten sich vor Erschöpfung nach dem unmäßigen Wachen und Liebesgenuß nicht mehr aufrecht zu halten und waren nicht fähig, den Heimweg zu bewältigen. Auch kam es meinen Absichten sehr gelegen, daß sie die Sänfte mitnahmen und keiner auf mich wartete. Jeden Tag hatte ich den Wächtern vor dem Haus des Gottes Wein verabreicht; sie wunderten sich daher nicht, als ich ihnen gegen Abend wieder einen vollen Krug brachte, sondern nahmen ihn erfreut an. Denn sie hatten wenig Unterhaltung in ihrer Einsamkeit, die jeweils einen Monat dauerte, bis der Festzug einen neuen Geweihten zum Haus des Gottes brachte. Wenn sie sich über etwas wunderten, so höchstens darüber, daß ich allein noch dablieb, um auf Minea zu warten, was noch nie vorgekommen war. Aber ich war wohl in ihren Augen ein einfältiger Fremdling. Sie tranken daher meinen Wein, und als ich sah, daß auch der Priester aus dem Tempel vor dem Haus des Gottes sich zu ihnen gesellte, ging ich zu Kaptah hinüber und sprach:
»Die Götter haben bestimmt, daß wir uns jetzt trennen müssen. Minea ist nicht zurückgekehrt, und ich glaube auch nicht, daß sie es tun wird, wenn ich sie nicht holen gehe. Aber bis heute ist noch keiner, der dieses dunkle Haus betreten hat, zurückgekehrt. Daher ist auch nicht anzunehmen, daß ich wiederkommen werde. Du tust am besten daran, dich in einem Hain zu verstecken, und wenn ich bis zum Morgen nicht zurück bin, gehst du allein zur Stadt. Wenn jemand nach mir fragen sollte, so gib ihm zur Antwort, ich sei von einem steilen Abhang ins Meer gestürzt, oder erfinde sonst eine Ausrede – du bist ja darin viel geschickter als ich. Ich bin zwar so sicher, nicht zurückzukehren, daß du dich sofort auf den Weg machen kannst, wenn du willst. Deshalb habe ich auch eine Lehmtafel für dich hergerichtet und ihren Inhalt mit einem syrischen Siegel bestätigt. Du kannst damit nach Syrien fahren und meine Guthaben in den Handelshäusern abheben. Auch mein Haus kannst du, wenn du willst, verkaufen. Wenn du das erledigt hast, bist du frei, zu tun, was immer dir beliebt. Fürchtest du jedoch, in Ägypten als entlaufener Sklave gefaßt zu werden, so bleibe in meinem Haus zu Simyra und lebe nach eigenem Gutdünken von meinen Mitteln! Unter diesen Umständen brauchst du auch nicht für die Einbalsamierung meines Leibes zu sorgen; denn wenn ich Minea nicht mehr finde, ist es mir gleichgültig, ob mein Leib erhalten bleibt oder nicht. Du bist mir ein getreuer Diener gewesen, wenn du mich auch oft mit deinem Geleier gelangweilt hast, und deshalb tut es mir leid, dich vielleicht zu oft und hart mit dem Stock geschlagen zu haben. Ich tat es jedenfalls in guter Absicht und hoffe daher, daß du es mir nicht nachträgst. Geh also im Schutze des Skarabäus, den du mitnehmen darfst, da du mehr als ich an ihn glaubst. Ich bin nämlich nicht der Ansicht, daß ich den Skarabäus dort brauchen werde, wohin ich mich jetzt begebe.«
Kaptah schwieg lange, ohne mich anzusehen, dann sprach er: »Herr, ich trage es dir nicht nach, daß du mich zuweilen unnütz hart mit dem Stock geschlagen hast, tatest du es doch in bester Absicht und nach Maßgabe deines Verstandes, öfter jedoch hast du auf meinen Rat gehört, und noch öfter hast du zu mir wie zu einem Freunde, nicht aber wie zu einem Diener und Sklaven gesprochen, so daß ich um deine Würde besorgt war, bis der Stock den von den Göttern festgesetzten Unterschied zwischen uns wiederhergestellt hat. Jetzt verhält es sich aber so, daß diese Minea auch meine Herrin ist, nachdem ich ihren gesegneten kleinen Fuß auf meinen Kopf gestellt habe; und als ihr Diener trage ich die Verantwortung für sie! Auch ohne das könnte ich dich nicht allein dieses dunkle Haus betreten lassen, und zwar aus vielen Gründen, die ich hier nicht aufzählen mag. Wenn ich dich also in meiner Eigenschaft als Diener nicht begleiten darf, nachdem du mir befohlen hast, dich zu verlassen und ich deinen Befehlen, selbst wenn sie dumm sind, Folge leisten muß, so begleite ich dich als Freund, weil ich dich nicht allein lassen kann. Am allerwenigsten lasse ich dich ohne den Skarabäus, wiewohl ich gleich dir bezweifle, daß uns der Skarabäus bei diesem Unternehmen behilflich sein kann.«
Er sprach so ernsthaft und nachdenklich, daß ich den einstigen Kaptah gar nicht in ihm wiederzuerkennen vermochte. Er jammerte auch nicht wie sonst. Aber meines Erachtens war es töricht, daß ihrer zwei in den Tod gehen sollten, wenn es mit meinem einzigen genügte. Das sagte ich ihm auch und ermahnte ihn nochmals, seines Weges zu gehen und keinen Unsinn zu schwatzen. Er aber erklärte halsstarrig:
»Wenn du mir nicht gestattest, mit dir zu gehen, so werde ich dir nachkommen, und das kannst du nicht verhindern; aber ich würde lieber gleichzeitig mit dir gehen, weil ich mich schrecklich vor der Finsternis fürchte. Auch sonst fürchte ich mich so sehr vor diesem dunklen Haus, daß sich beim bloßen Gedanken daran die Knochen meines Leibes in Wasser verwandeln. Deshalb hoffe ich, daß du mir gestattest, einen Krug Wein mitzunehmen, damit ich mir unterwegs Mut antrinken kann, weil ich sonst vor Angst zu schreien und dich zu stören fürchte. Es lohnt sich nicht für mich, eine Waffe mitzunehmen; ich bin ein gutmütiger Mann und verabscheue jedes Blutvergießen und habe mich stets mehr auf meine Beine als auf Waffen verlassen. Wenn du also vorhast, dich auf einen Kampf mit dem Gott einzulassen, mußt du ihn allein durchführen, während ich zuschaue und dich mit guten Ratschlägen ermuntere.«
Ich sagte: »Hör auf mit deinem Geschwätz und nimm, wenn du willst, einen Krug Wein mit! Aber laß uns jetzt gehen! Ich glaube, die Wächter schlafen bereits, betäubt von dem Wein, den ich ihnen gemischt habe.«
Die Wächter schliefen tatsächlich tief, und auch der Priester schlief, so daß ich ohne Schwierigkeit den Schlüssel zu des Minotauros’ Tür von seinem Platz im Hause des Priesters, wo ich ihn entdeckt hatte, holen konnte. Wir nahmen auch ein Feuerbecken und Fackeln mit, die wir zwar noch nicht anzündeten, weil man beim Mondschein noch gut sah und die kleine Pforte sich mit dem Schlüssel unschwer öffnen ließ. So betraten wir das Haus des Gottes und schlossen die Tür hinter uns. Im Dunkeln hörte ich Kaptahs Zähne gegen den Rand des Weinkruges schlagen.
5
Nachdem Kaptah sich Mut angetrunken, sprach er mit matter Stimme: »Herr, laß uns eine Fackel anzünden! Ihr Schein dringt von hier nicht bis ins Freie. Diese Finsternis jedoch ist schlimmer als das Dunkel des Totenreiches, dem niemand entgehen kann, während wir uns in dieses freiwillig hineinbegeben haben.«
Ich blies auf die Glut und zündete eine Fackel an: da sah ich, daß wir uns in einer großen Höhle befanden, deren Zugang die Kupfertore versperrten. Von dieser Höhle aus liefen zehn, durch mächtige Ziegelmauern voneinander getrennte Gänge in verschiedene Richtungen. Hierauf war ich jedoch vorbereitet gewesen, weil ich vernommen hatte, daß der Gott Kretas in einem Labyrinth wohne und die Priester von Babylon mich gelehrt hatten, daß die Labyrinthe nach dem Vorbild der Gedärme der Opfertiere gebaut werden. Deshalb glaubte ich, den richtigen Weg finden zu können, wenn ich mich nach der Ordnung der bei den Opferhandlungen beobachteten Stiergedärme richtete; denn ich dachte mir, daß das Labyrinth auf Kreta zweifellos einst nach dem Muster der Gedärme der Stiere angeordnet worden sei. Ich zeigte Kaptah den am deutlichsten seitwärts führenden Gang und sagte: »Hier wollen wir eindringen!«
Kaptah aber sprach: »Wir haben wohl keine besondere Eile, und Vorsicht bringt kein Boot zum Kentern. Es ist daher ratsam, uns vorzusehen, daß wir einander nicht verlieren, und vor allem, daß wir den Weg hierher zurückfinden – für den Fall, daß wir überhaupt wiederkehren können, was ich jedoch sehr bezweifle.« Nach diesen Worten zog er einen Garnknäuel aus seiner Tasche und knüpfte das Ende an einen Knochensplitter, den er zwischen zwei Ziegeln festklemmte. Dieser Einfall war bei aller Einfachheit so gescheit, daß ich nie daraufgekommen wäre, was ich ihm jedoch nicht verriet, um meine Würde nicht in seinen Augen herabzusetzen. Deshalb hieß ich ihn bloß in barschem Ton, sich zu beeilen. So begann ich die Wanderung durch die Irrgänge des dunklen Hauses, wobei ich mir unaufhörlich das Bild der Windungen der Stiergedärme vorstellte, und Kaptah wickelte im Gehen nach und nach den Knäuel ab.
Wir tappten endlos durch die vielen dunklen Gänge. Immer neue taten sich vor uns auf. Zuweilen stießen wir auf eine Wand, die uns zum Rückzug zwang, und wanderten dann durch einen neuen Gang, bis Kaptah plötzlich witternd stehenblieb; seine Zähne klapperten vor Angst, und seine Fackel zitterte, als er fragte: »Herr, spürst du den Geruch der Stiere?«
Auch ich roch deutlich einen widerwärtigen Gestank, der an den Geruch der Stiere erinnerte, nur daß er noch viel gräßlicher war. Dieser Gestank schien den Mauern, zwischen denen wir standen, zu entströmen, als wäre das ganze Labyrinth ein riesiger Stierstall. Aber ich befahl Kaptah, ungeachtet des Geruchs weiterzugehen. Nachdem er sich mit einem tüchtigen Schluck aus dem Weinkrug gestärkt hatte, eilten wir voran, bis mein Fuß auf einem schlüpfrigen Gegenstand ausglitt, und ich bei seiner Untersuchung entdeckte, daß es ein halbvermoderter Frauenschädel war, an dem noch Haare klebten. Dieser Anblick verriet mir, daß ich Minea niemals lebend wiedersehen würde! Aber ein so wahnsinniger Trieb nach Gewißheit jagte mich vorwärts, daß ich Kaptah einen Stoß versetzte und ihm das Jammern untersagte. Wir drangen wieder vorwärts, wobei wir das Garnknäuel immer weiter abwickelten. Bald stießen wir jedoch von neuem an eine Wand und mußten umkehren, um einen neuen Gang zu suchen.
Plötzlich blieb Kaptah abermals stehen und zeigte sprachlos auf den Boden, während sich ihm das schüttere Haar auf dem Kopfe sträubte und sein Gesicht verzerrt und aschgrau wurde. Auch ich blickte hin und entdeckte einen mannshohen Haufen vertrockneter Exkremente: sollte dieser von einem Stier stammen, mußte das Tier von unvorstellbarer Größe sein. Kaptah, der meinem Gedankengang zu folgen schien, meinte: »Es kann nicht Stiermist sein; denn ein Stier von solchem Ausmaß hätte keinen Platz in diesen Gängen. Ich glaube eher, daß der Haufen von einer Riesenschlange stammt.« Er tat einen tiefen Zug aus dem Krug, wobei seine Zähne hörbar gegen dessen Rand schlugen. Ich überlegte, daß die Irrgänge tatsächlich für die Fortbewegung einer Riesenschlange gebaut schienen, und verspürte einen Augenblick Lust, umzukehren. Aber dann entsann ich mich wieder Mineas; eine grenzenlose Verzweiflung befiel mich, ich zog Kaptah mit und schritt weiter, das Messer mit der feuchten Hand umklammernd, obgleich ich wußte, daß es mir nichts nützen konnte.
Der Gestank in den Gängen wurde immer entsetzlicher, schlug uns wie aus einem Riesengrab entgegen und drohte uns zu ersticken. Aber meine Seele jubelte, denn ich wußte, daß wir bald am Ziel stehen würden. Wir eilten vorwärts; ein grauer Dämmerschein begann wie die Ahnung eines fernen Lichtes den Gang zu erfüllen, und wir drangen so weit in den Berg hinein, bis die Gänge nicht mehr mit Ziegelwänden versehen, sondern in weichen Stein gehauen waren. Der Weg führte abwärts, wir stolperten über Menschengebeine und Misthaufen, als befänden wir uns in der Höhle eines gewaltigen Ungeheuers, und schließlich wölbte sich vor unseren Blicken eine Riesengrotte: wir standen an einem Hang, zu unseren Füßen plätscherte Wasser, und um uns herum stank es entsetzlich.
Die Grotte erhielt ihr Licht vom Meer. Wir konnten uns ohne Fackeln in dem unheimlich grün schimmernden Licht umsehen und vernahmen aus weiter Ferne Wellenschlag an Uferklippen. Vor uns, auf dem Wasser, schwamm etwas: das sah wie eine Reihe von riesigen Ledersäcken aus, bis das Auge schließlich erfaßte, daß es ein totes Tier war, welches da im Wasser lag – ein nach Fäulnis stinkendes Vieh von unvorstellbarer Größe und Gräßlichkeit. Sein im Wasser liegender Kopf war derjenige eines Riesentieres, während sein durch die Verwesung leicht gewordener, vielgewunden auf dem Wasser schaukelnder Körper einer entsetzlichen Schlange angehörte. Ich wußte, daß ich den Gott Kretas vor mir sah; aber ich verstand auch, daß dieses grauenerregende Ungeheuer schon seit Monaten tot sein mußte. Wo befand sich nun Minea?
Beim Gedanken an sie gedachte ich auch all derer, die vor ihr als Geweihte sein Haus betraten, nachdem sie vor den Stieren tanzen gelernt hatten. Ich dachte an die Jünglinge, die kein Weib berühren durften, und an die Mädchen, die ihre Jungfräulichkeit bewahren mußten, um in das Licht und die Freude des Gotteshauses einzugehen. Ich dachte an ihre in den Irrgärten des dunklen Hauses zerstreuten Schädel und Gebeine, dachte an das Ungeheuer, das sie in dem Labyrinth verfolgte und ihnen mit seinem furchtbaren Leib den Weg versperrte, so daß ihnen weder ihre Sprünge noch alle anderen vor den Stieren eingeübten Kunststücke helfen konnten. Dieses Scheusal lebte von Menschenfleisch und begnügte sich mit einer Mahlzeit im Monat; und diese Mahlzeit wurde ihm von den Herrschern Kretas als Opfer dargebracht in der Gestalt der schönsten Jungfrauen und untadeligsten Jünglinge, weil man sich einbildete, dadurch die Herrschaft über das Meer behalten zu können. Sicherlich war dieses Ungeheuer in Urzeiten durch einen Sturm aus furchtbaren Meerestiefen in die Höhle hineingetrieben worden, ebenso sicher hatte man ihm den Rückzug versperrt, das Labyrinth gebaut und es mit Opfern gefüttert, bis es gestorben war. Ein zweites Ungeheuer dieser Art aber gab es bestimmt nicht mehr in der Welt. Wo war also Minea?
Wahnsinnig vor Verzweiflung, rief ich ihren Namen, daß es in der Grotte widerhallte, bis Kaptah mich auf vertrocknete Blutspuren auf dem Steinboden aufmerksam machte. Ich folgte ihnen, spähte ins Wasser und erblickte Mineas Leib oder richtiger das, was von ihm übriggeblieben war. Der Leichnam bewegte sich langsam in der Tiefe, von Seekrabben umgeben, die von allen Seiten gierig daran rissen und das Gesicht bereits so zerfressen hatten, daß ich Minea nur noch an ihrem silbernen Haarnetz erkannte. Ich brauchte die Wunde in ihrer Brust nicht zu sehen, um zu wissen, daß Minotauros ihr hierher gefolgt war und sie von hinten mit dem Schwert durchbohrt hatte, um ihren Leichnam dann ins Wasser zu werfen, damit niemand erfahre, daß der Gott Kretas tot sei. In gleicher Weise war er gewiß schon mit manchem Jüngling und mancher Jungfrau vor Minea verfahren.
Als ich das alles sah und begriff, entstieg meiner Kehle ein Schrei des Entsetzens; ich sank in die Knie, verlor das Bewußtsein und wäre zweifellos den Hang hinab zu Minea gerollt, wenn Kaptah mich nicht beim Arm gepackt und an eine sichere Stelle geschleppt hätte, wie er mir später erzählte. Denn von dem, was hernach mit mir geschah, weiß ich nur, was Kaptah mir berichtet hat. So tief und barmherzig war die Bewußtlosigkeit, die mich nach all der ausgestandenen Unruhe, Qual und Verzweiflung befiel.
Kaptah erzählte, er habe lange neben meinem Leib gejammert, weil er mich für tot gehalten; und auch Mineas wegen habe er geweint, bis er schließlich seinen Verstand zusammengenommen, meinen Körper befühlt und entdeckt habe, daß ich noch lebte, worauf er wenigstens mich habe retten wollen, nachdem es für Minea zu spät war. Er erzählte weiter, daß er auch die Leichen anderer von Minotauros umgebrachter Jünglinge und Jungfrauen gesehen; ihnen hätten die Krabben alles Fleisch von den Knochen genagt, und ihre Gebeine lägen glatt und weiß auf dem sandigen Meeresboden. Ob er mir dies zum Trost erzählte, weiß ich nicht. Jedenfalls hatte der Gestank ihn allmählich zu ersticken gedroht, und nachdem er eingesehen, daß er nicht gleichzeitig den Weinkrug und mich tragen konnte, trank er entschlossen den Wein aus und schleuderte den Krug ins Wasser. Der Wein aber verlieh ihm genügend Kräfte, um mich, halb tragend, halb schleifend und stets dem abgewickelten Faden folgend, wieder zum Kupfertor zurückzuschleppen. Um keine Spur unseres Besuches im Labyrinth zu hinterlassen, hatte er sich nach eigener Überlegung entschlossen, den Faden auf dem Rückzug wieder aufzuwickeln. Er behauptete auch, beim Fackelschein geheime Zeichen an den Wänden und Kreuzungen der Gänge entdeckt zu haben, die ohne Zweifel von Minotauros als Wegweiser angebracht worden waren. Den Weinkrug aber wollte Kaptah absichtlichs ins Wasser geworfen haben, um Minotauros bei seiner nächsten Mordtat etwas zu denken zu geben.
Der Tag begann bereits zu dämmern, als er mich endlich an die frische Luft brachte, die Pforte hinter sich schloß und den Schlüssel wieder an seinen Platz im Haus des Priesters hängte. Sowohl dieser als auch die Wächter lagen immer noch in tiefem Schlaf, betäubt vom Wein, den ich ihnen kredenzt hatte. Hierauf schleppte er mich ans Ufer eines Baches, wo er mich im Gebüsch versteckte, mir das Gesicht wusch und die Hände rieb, bis ich wieder zu mir kam. Aber auch hiervon weiß ich nichts mehr, weil ich, wie er behauptete, ganz verwirrt war und nicht sprechen konnte, weshalb er mir ein Beruhigungsmittel verabreichte. Zu vollem Bewußtsein kam ich, von ihm gestützt und geführt, erst später, als wir uns bereits in der Nähe der Stadt befanden. Von da an erinnere ich mich wieder an alles.
Doch kann ich mich nicht entsinnen, einen eigentlichen Schmerz verspürt zu haben, und ich dachte nicht mehr viel an Minea, die bloß noch wie ein ferner Schatten in meiner Seele war, als wäre ich ihr irgendwann und irgendwo in einem früheren Leben begegnet. Hingegen dachte ich an die Tatsache, daß der Gott Kretas tot war und daß daher die Macht Kretas laut Prophezeiung ihr Ende finden mußte. Darüber war ich keineswegs betrübt, obgleich die Kreter freundlich zu mir gewesen waren und ihr Frohsinn wie auch ihre Kunst dem glitzernden Schaum am Meeresufer glichen. Während ich mich der Stadt näherte, empfand ich Befriedigung beim Gedanken, daß diese luftigen, schönen Bauten eines Tages in Flammen stehen, das geile Kreischen der Frauen sich in Todesschreie wandeln, das goldene Stierhaupt des Minotauros mit einem Hammer plattgeschlagen, zerstückelt und als Beute verteilt werden und nichts von Kretas Macht übrigbleiben, sondern die Insel der Kreter in den Schoß des Meeres, aus dem sie einst mit dem gräßlichen Stier emporgestiegen war, versinken würde. Ich dachte auch an Minotauros, ohne jedoch schlecht von ihm zu denken. Denn der Tod Mineas war leicht gewesen; sie hatte nicht unter Aufbietung ihrer ganzen Kunst vor dem Seeungeheuer fliehen müssen, sondern war gestorben, ohne recht zu wissen, was mit ihr geschah. Ich dachte an Minotauros als den einzigen Menschen, der gewußt hatte, daß der Gott tot war und Kreta untergehen würde; und ich erfaßte, wie schwer sein Wissen darum zu tragen war. Ich konnte auch nicht ermessen, ob ihm sein Geheimnis leicht zu wahren gewesen, solange das Ungeheuer noch lebte und er Monat für Monat, Jahr für Jahr die schönsten Jungfrauen und Jünglinge seines Landes in das dunkle Haus schickte, wohl wissend, was dort ihrer harrte. Nein, ich hegte keinen Groll gegen Minotauros, sondern sang und lachte so einfältig, während ich einher schritt, daß es Kaptah ein leichtes war, den uns begegnenden Freunden Mineas zu erklären, ich sei immer noch betrunken, was begreiflich sei, da ich als Fremder nicht wußte, wie barbarisch es wirken mußte, am hellichten Tag betrunken zu sein. Schließlich gelang es Kaptah, eine Sänfte aufzutreiben und mich in die Herberge zu bringen, wo ich reichlich Wein zu mir nahm, um alsdann tief und lange zu schlafen.
Als ich erwachte, war ich ganz klar im Kopf und alles Vergangene schien mir weit zurückzuliegen. Ich dachte wieder an Minotauros und daß ich ihn töten könnte, fand aber, daß ich weder Nutzen noch Freude dran hätte. Auch dachte ich an die Möglichkeit, dem Volk im Hafenviertel den Tod des Gottes Kretas zu verraten. Dadurch konnte ich das Feuer die Stadt verheeren und das Blut ihrer Bewohner fließen lassen; aber auch dies würde mir weder Nutzen noch Freude bringen. Weiter dachte ich daran, daß ich durch die Enthüllung der Wahrheit all jenen, die bereits das Los gezogen oder es in Zukunft ziehen würden, das Leben retten könnte; aber ich wußte, daß die Wahrheit ein gezücktes Messer in der Hand eines Kindes ist und sich gegen ihren Träger wenden kann.
Deshalb war ich der Ansicht, daß der Gott Kretas mich als einen Fremden nichts anging und daß ich Minea ja doch nie zurückbekommen könnte, sondern daß Krebse und Krabben ihre zarten Knochen abnagen würden, um sie für Zeit und Ewigkeit in der Meerestiefe ruhen zu lassen. Ich dachte, daß all das bereits vor meiner Geburt in den Sternen geschrieben und ich geboren ward, um in der Abenddämmerung der Welt zu leben, da die Götter starben und sich alles anders als zuvor gestaltete, indem ein Weltjahr zu Ende ging und ein neues begann. Dieser Gedanke brachte mir Trost, und ich sprach viel darüber mit Kaptah. Aber dieser behauptete, ich sei krank und müsse mich ausruhen, und verwehrte jedermann den Zutritt zu mir, weil ich auch mit anderen darüber zu sprechen wünschte.
Überhaupt fiel mir Kaptah in diesen Tagen äußerst lästig, denn er stopfte unaufhörlich Essen in mich hinein, obwohl ich gar nicht hungrig war und mich mit Wein allein begnügt hätte. Ich litt nämlich an einem steten Durst, der nur durch Wein zu löschen war, und fühlte mich am ruhigsten und einsichtigsten in den Augenblicken, da der Wein mich alles doppelt sehen ließ. Auch wußte ich dann, daß vielleicht nichts so ist, wie es aussieht; denn der Weintrinker sieht, wenn er genug getrunken hat, alles doppelt, und das erscheint ihm als wahr, obwohl er ganz gut weiß, daß es nicht der Fall ist. Hierin lag meines Erachtens das eigentliche Wesen aller Wahrheit verborgen. Doch als ich geduldig und beherrscht versuchte, dies Kaptah klarzumachen, hörte er mir überhaupt nicht zu, sondern ermahnte mich, mit geschlossenen Augen auf dem Rücken zu liegen, um mich zu beruhigen. Ich fühlte mich kalt und ohne Regung wie ein Fisch in einem Ölkrug, und die Augen wollte ich erst recht nicht schließen, weil ich dann allerlei unerquickliche Dinge vor mir sah, wie abgenagte Menschengebeine in faulendem Wasser oder eine gewisse Minea, die ich vor langer Zeit gekannt und die jetzt einen kunstreichen und schwierigen Tanz vor einer stierhäuptigen Schlange aufführte. Deshalb wollte ich die Augen nicht schließen, sondern bemühte mich, meinen Stock zu ergreifen, um Kaptah damit zu schlagen; denn ich war seiner sehr überdrüssig. Aber meine Hand war vom Wein so geschwächt, daß er mir den Stock mit Leichtigkeit entwand. Auch mein außerordentlich wertvolles Messer, das ich von dem hetitischen Hafenmeister geschenkt bekommen hatte, versteckte er vor mir, weil er wußte, daß ich nur allzu gerne das Blut aus meinen Adern hätte rinnen sehen.
Kaptah war so dreist, trotz meinen wiederholten und inständigen Bitten Minotauros nicht zu mir kommen zu lassen; ich hätte gerne mit dem Oberpriester gesprochen, da ich ihn für den einzigen Menschen auf der Welt hielt, der mich und meine großen Gedanken über die Götter, die Wahrheit und die Illusionen völlig hätte verstehen können. Kaptah brachte mir nicht einmal ein blutiges Stierhaupt, mit dem ich mich hätte über die Stiere, das Meer und den Stiertanz unterhalten können.
Nachträglich verstehe ich wohl, daß ich zu jener Zeit ernstlich krank war. Ich kann mich der Gedanken, die ich damals hegte, nicht mehr entsinnen, weil damals auch das Weintrinken dazu beitrug, mir die Sinne zu verwirren und das Bewußtsein zu verdunkeln. Dennoch glaube ich, daß mich der Wein davor rettete, den Verstand gänzlich zu verlieren, und mir über die schwerste Zeit hinweghalf, nachdem ich Minea und mit ihr meinen Glauben an die Götter und an die menschliche Güte für immer verloren hatte.
Auf diese Art und Weise verflüchtigte sich mit dem Wein etwas in meiner Seele, genauso wie einst, da ich als Knabe den Priester Ammons im Allerheiligsten dem Gott ins Gesicht spucken und den Geifer dann mit dem Ärmel abwischen sah. Der Strom des Lebens hemmte wiederum seinen Lauf und breitete sich zu einem Teich aus, der an der Oberfläche schön zu schauen war und die Sterne wie den Himmel spiegelte, dessen Wasser aber, wenn du deinen Stab hineinstößt, seicht und dessen Grund voll Schlick und Kadaver war.
Dann kam jener Morgen in der Herberge, da ich wieder zum Bewußtsein erwachte und Kaptah, den Kopf in den Händen wiegend und leise vor sich hin weinend, in einer Ecke des Zimmers sitzen sah. Mit zitternden Händen neigte ich den Weinkrug, um, nachdem ich getrunken, zornig auszurufen: »Warum weinst du, Hund?« Das war seit vielen Tagen das erstemal, daß ich ihn anredete, so satt hatte ich seine Pflege und Dummheit bekommen. Er hob den Kopf und sprach: »Im Hafen liegt ein Schiff bereit, nach Syrien zu fahren. Es dürfte das letzte sein, das vor dem Beginn der schweren Winterstürme abgeht. Nur deshalb weine ich.«
Ich erwiderte: »So lauf zu deinem Schiff, bevor ich dich wieder mit dem Stock schlage, damit ich deine Fratze nicht mehr zu sehen und dein ewiges Gejammer nicht mehr zu hören brauche.« Kaum hatte ich dies gesagt, schämte ich mich meiner selbst, stieß den Weinkrug von mir und spürte einen peinlichen Trost darin, daß es wenigstens einen Menschen gab, der von mir abhängig war, wenn es sich auch bloß um einen entlaufenen Sklaven handelte.
Kaptah aber sagte: »Wahrlich, Herr, auch ich bin deiner Trunksucht und deines Schweinelebens so überdrüssig, daß der Wein seinen Geschmack in meinem Mund verloren hat, was ich nie für möglich gehalten hätte; ich mag nicht einmal mehr Bier durch ein Rohr aus dem Krug saugen. Was tot ist, ist tot und kehrt nicht wieder, weshalb ich der Meinung bin, daß wir am besten daran täten, die Insel, solange es noch geht, zu verlassen. Dein Gold und Silber und alles, was du auf deinen Reisen gewonnen, hast du nämlich zum Fenster hinaus in den Rinnstein geworfen; ich glaube auch nicht, daß deine zitternden Hände, die kaum mehr einen Weinkrug zu halten vermögen, noch jemanden heilen können. Ich muß zugeben, daß es mich anfangs richtig dünkte, daß du Wein zu deiner Beruhigung trankst und ich dich sogar dazu aufforderte und die Siegel immer neuer Weinkrüge erbrach und auch selbst daraus trank. Auch prahlte ich vor den Leuten, indem ich sagte: ›Seht, was für einen Herrn ich habe! Er säuft wie ein Flußpferd und verpraßt damit ohne Zögern Gold und Silber und freut sich mächtig des Daseins.‹ Jetzt aber prahle ich nicht mehr, sondern schäme mich meines Herrn; denn alles hat schließlich seine Grenzen, und ich finde, daß du immer übertreibst. Ich verurteile gewiß nicht einen Mann, der sich betrinkt und an den Straßenecken herumprügelt und sich Beulen am Kopf holt; denn das ist eine vernünftige Sitte, die bei vielerlei Sorgen große Erleichterung bringt. Ich selbst habe ihr nur zu oft gehuldigt. Aber der Katzenjammer muß auf vernünftige Weise durch Bier und gesalzenen Fisch ausgeglichen werden, worauf man wieder an die Arbeit zu gehen hat, wie die Götter es vorschreiben und der Anstand fordert. Statt dessen aber säufst du, als wäre jeder Tag dein letzter. Ich fürchte, daß du dich zu Tode trinken willst. Wenn dem aber so ist, rate ich dir, dich lieber in einem Weinfaß zu ersäufen, weil dies ein rascheres und angenehmeres Leben ist, das keine Schande über dich bringt.«
Ich sann über seine Worte nach und beobachtete meine Hände, die die Hände eines Heilkünstlers waren; jetzt zitterten sie, als hätten sie einen eigenen Willen und ich keine Macht mehr über sie. Ich dachte auch an alle Kenntnisse, die ich in verschiedenen Ländern erworben, und kam zu der Einsicht, daß Übertreibung Torheit, und Maßlosigkeit in Essen und Trinken ebenso unvernünftig ist, wie solche in Freude und Kummer. Deshalb äußerte ich zu Kaptah:
»Dein Wille geschehe. Aber wisse, daß ich mir selbst über alles, was du soeben sagtest, völlig im klaren bin, und deine Worte keinen Einfluß auf meine Beschlüsse auszuüben vermögen, sondern wie eintöniges Fliegengesumm in meinen Ohren klingen. Mit dem Trinken aber will ich für dieses Mal aufhören und längere Zeit keinen einzigen Weinkrug mehr öffnen. Ich gedenke, Kreta zu verlassen, um nach Simyra zurückzukehren.«
Kaptah sagte weiter nichts, sondern entfernte sich; und noch am selben Tag begaben wir uns an Bord des Schiffes. Die Schiffsknechte streckten ihre Ruder aus und steuerten das Schiff an Hunderten von Fahrzeugen und an kretischen Kriegsschiffen, deren Relinge mit Kupferschilden gesäumt waren, vorüber und aus dem Hafen hinaus. Auf dem offenen Meer aber zogen sie die Ruder ein, und der Kapitän opferte dem Meergott und den Göttern in seiner Kabine, worauf er die Segel hissen ließ. Das Schiff schwankte, und die Wellen prallten dröhnend gegen seinen Bug. Wir hielten Kurs auf die syrische Küste, und hinter uns verschwand Kreta wie eine blaue Wolke oder wie ein Schatten oder ein Traum, und rund um uns her war nichts als die wogende Meeresfläche.